Auch wenn der Titel Elsas Großväter lautet, so tritt doch hauptsächlich der Großvater väterlicherseits aus den Schatten der fürchterlichen Geschehnisse hervor. Während die in ärmlichen Verhältnissen in der Wiener Leopoldstadt lebende Familie von Elsas Mutter den Nachkommen keine vergleichbaren persönlichen Dokumente hinterlassen konnte, so sind es die Zeugnisse des großbürgerlichen schriftstellernden Großvaters aus dem noblen Pötzleinsdorf, die einen unverfälschten Blick auf die Monate voller Demütigung, Angst, psychischen sowie körperlichen Ungleichgewichts freigeben.
Elsas Eltern lernten sich erst im englischen Exil in London kennen, aus dem sie ins Nachkriegswien zurückkehrten. Durch sie bekam Elsa ein Bild der Großeltern vermittelt, das sich durch die Lektüre dieser Mappe voller Briefe in mancher Hinsicht relativiert. Es wird ihr ein Großvater nähergebracht, der zwar – laut väterlicher Erzählungen – den Sohn von seiner Kommunismusgläubigkeit abbringen wollte, sich nach dessen gelungener Flucht allerdings als überaus zärtlicher und berührend interessierter Vater entpuppt. All diese Legenden aus den Nachkriegsjahrzehnten, von ihrer „gehörnten“ intellektuellen Großmutter, von der in Wien als U-Boot zurückgebliebenen Schwester des Vaters, von der sogenannten arischen Kinderfrau, die der jüdischen Familie Unterschlupf und vieles mehr bot, aber eben auch die Geliebte des Großvaters gewesen sein soll, erscheinen durch diese historische Korrespondenz in einem anderen Licht.
Es ist schier unverständlich und kaum nachzuvollziehen – aus heutiger Sicht -, wie ein jüdischer assimilationswilliger Schriftsteller im Wien der Jahre 1939 und 1940, schikaniert vom bürokratischen Dschungel des Naziregimes, sich akribisch mit der Besorgung von Tropenausrüstung (geplant war die Ausreise über Belgien in den belgischen Kongo, wo der ältere Sohn, also Elsas Onkel, bereits Fuß gefaßt hatte), der Mitnahme einer Schreibmaschine und sonstigen Alltäglichkeiten auseinandersetzte, während der Kriegsausbruch und die folgende Katastrophe schon so erschreckend nah waren. Aber auch aus den Briefen des in London lebenden und forschenden Sohnes geht hervor, daß die Situation offensichtlich etwas falsch eingeschätzt wurde.
Die Leserin dieser Briefe, Elsa, sitzt bei der Lektüre fast auf Nadeln. Wissend, wie ihre Großeltern enden werden, nähert sie sich mit jedem Brief (zum Schluß sind nur noch die Briefe des Großvaters erhalten) dem Unausweichlichen. So als wenn man sich auf einem Zug befinde, der unaufhaltsam dem Abgrund entgegenrast, und ein Abspringen scheint unmöglich. Elsas Großvater wurde 1940 im belgischen Exil von den deutschen Besetzern gefaßt und starb während des Internierungstransports. Die Familienlegende besagt, daß er auf der Flucht bei einem Bombenangriff um’s Leben gekommen sein soll. Die Großmutter wurde vier Jahre später deportiert und fand den Tod in Auschwitz.
Susanne Scholls Roman, gewidmet ihren von den Nationalsozialisten ermordeten Großeltern, wird durch eine vergleichende Komponente erweitert: durch die parallellaufende Kriegsberichterstattung aus dem ehemaligen Jugoslawien. Nicht nur, daß Elsa während ihres Kuraufenthalts immer wieder mit der Relativität von Recht und Gerechtigkeit konfrontiert wird, soll hier vor allem anhand von Vergangenheit und Gegenwart die Unmöglichkeit aufgezeigt werden, Gut und Böse als zwei klar voneinander getrennte Kategorien zu verstehen. Die Grauzonen der Wirklichkeit sind wohl in jeder Hinsicht dominant.
„Die Sieger tanzen auf den Straßen und lassen jene, die ihr Land für sie besetzt haben, hochleben. Und zünden – so ganz nebenbei – die Häuser anderer an, so wie bis vor kurzem ihre eigenen Häuser angezündet wurden. Hat das Gute über das Böse triumphiert?“