#Roman

O.

Sabine Scholl

// Rezension von Holger Englerth

Die Odyssee ist von unsterblicher Großartigkeit und zugleich stellenweise unerträglich. Wenn Sabine Scholl eine neue Fassung des Stoffes wagt, dann wird sie ihrer Vorlage in diesen beiden Aspekten gerecht. Sie bewahrt den einnehmenden und packenden Zauber der Erzählung und scheut sich dennoch nicht, dem Epos Widerspruch zu leisten und die Geschichte resolut zurechtzurücken. Die Aktualisierung bedeutet dabei keine Verniedlichung oder Verkürzung im Dienste leichterer Konsumierbarkeit, sondern stellt sich vorrangig der Frage, wie eine Odyssee vor einem gegenwärtigen Hintergrund ablaufen könnte.

Der Übergang von der klassischen Erzählung zum Heute ist dabei zunächst noch friedvoll und sanft: O., ein weiblicher Odysseus, die nie bei ihrem vollen Namen genannt werden wird, verbringt lustvolle Zeit bei Calypos, der sich bemüht sie bei sich zu halten. Zwar bleibt Sabine Scholl im gesamten Roman eine Erzählerin, die stets alle Sinneserfahrungen berücksichtigt, im Sinne einer Idylle geschieht dies jedoch nur auf den ersten Seiten des Romans. Schon bald wird deutlich, dass es sich um keine antike Insel handeln kann: „Im Gestrüpp verfangene Fetzen von Plastik, vergilbte Tüten und vom Wind zerrissene Folien in den Ästen“ (S. 17) verorten das Geschehen im heutigen Mittelmeerraum. Und mit der ersten Begegnung mit Salma, einer jungen Frau, die zur Küste geschmuggelt worden ist und nun auf ein Boot zur Überfahrt wartet, kommt der Roman zu seinem zentralen Thema, den Geschichten von Flucht und Migration. Europa und Afrika sind durch sie immer schon übers Meer verbunden, wobei die Wege und auch die Bewegungsrichtungen in ständiger Veränderung begriffen sind. Die Odyssee liegt als große Reiseerzählung dabei durchaus nahe, Sabine Scholl macht aber auch deutlich, wo die Parallelen enden: Nur für ihre Hauptfigur wird die Reise wie für Odysseus eine Heimreise sein, alle ihre Gefährtinnen dagegen haben ihrer Heimat aus verschiedenen und guten Gründen den Rücken gekehrt, ihre Bewegung ist demnach eine genau Umgekehrte. Je nach Bezugspunkt zum Epos ändert sich auch der erzählerische Zugang: Passagen großer inhaltlicher Übereinstimmung, wie z.B. die Episode mit dem Kyklopen Polyphem, die nur geringe Variationen erfahren, wechseln mit Abschnitten, die in ihrer beinahe journalistischen Zugangsweise die Seenotrettung sinkender Flüchtlingsboote aus der Perspektive der Helfer in großer Eindringlichkeit schildern, dabei aber unsere hartherzige Gegenwart kaum mehr mit der antiken Geschichtenwelt verbinden. Das engagierte Erzählen tritt auf in Form von aus der Vorlage abgeleiteten Gleichnissen, wie etwa dem freundlich-distanzierten Durchwinken der Schiffbrüchigen auf der Insel der Aeolas, als Anklage verhinderter Lebensperspektiven bei der Begegnung O.s mit historischen Frauenfiguren bei ihrem Abstieg ins Totenreich (hier treffen wir sogar auf Alma Mahler-Werfel, wer hätte das gedacht), aber auch in Sätzen, die in ihrer Knappheit und Eindeutigkeit den Zustand unserer Gegenwart einzufassen vermögen: „Klingt nach Visa-Problem.“ (S. 180)

Ein Reiz der Lektüre einer eigentlich bekannten Geschichte in neuer Fassung ist die ständige Spannung, die sich aus erfüllten und gebrochenen Erwartungen ergibt. Schon dass O. hier eine Frau ist, macht zum Beispiel Bewegungen in der gleichen Art wie bei einem Mann unmöglich. Die Gefährdungen sind zum Teil andere, die Grenzen werden früher gezogen, die Regeln unterscheiden sich. In den gar nicht so wenigen erotischen Beziehungen klingt da zuweilen die andere O. aus einer ‚Geschichte von‘ an: Nur in den wenigsten Fällen sind die Liebesverhältnisse auf einer gleichwertigen Ebene angesiedelt, fast alle GespielInnen versuchen, O. in ihrer Macht zu halten. Im Gegensatz zu den Gefährtinnen, deren Charakterisierungen meist nur wie hingetupft geraten – aber das muss wohl auch so sein, wenn sie eine Art Chor für die Hauptfigur bilden – gewinnt O. im Laufe des Romans an unerwarteter Tiefe. In der Beschreibung ihrer Mutter ist unschwer die reale Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley zu erkennen, die den Missbrauch ihrer Kinder durch ihren Mann deckte und guthieß. O. ist damit sowohl Opfer wie – im Vergleich zu ihren Gefährtinnen – durch Pass und finanziellen Rückhalt in einer privilegierten Position. Eine klassische Heimkehr ist da wohl nur bedingt möglich, und dem Epos ist hier auch nicht mehr zu folgen. So lässt ihr die gute Freundin Atena über einen Boten ausrichten: „Damit du dich heimisch fühlst, brauchst du Menschen, die dir nahe sind, keine Orte. Und die klassische Art der Heimkehr kommt für dich ohnehin nicht in Frage, schätze ich.“ „Und die wäre welche?“ „Na, du müsstest alles töten, was dein Vertrautsein stört.“ (S. 264f.) Es ist diese Haltung des Protests gegen das Althergebrachte, gegen die Selbstverständlichkeit der Gewalt, die den neuen Roman von Sabine Scholl zu einer überzeugenden Erzählung von einem Leben macht, das selbst im ständigen Schiffbruch die Hoffnung auf Landung nicht aufzugeben bereit ist.

Sabine Scholl O.
Roman.
Zürich: Secession Verlag, 2020.
300 S.; geb.
ISBN 978-3-96639-022-4.

Rezension vom 10.03.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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