#Roman

Die geheimen Aufzeichnungen Marinas

Sabine Scholl

// Rezension von Klaus Kastberger

Marina heißt eigentlich Malinche heißt eigentlich Malintzin – sie war die einzige Frau, die in der Eroberung Mittel- und Südamerikas eine wesentliche Rolle gespielt hat. Die Spanier haben es damals nicht geschafft, den Nahuatl-Namen der ihnen zum Geschenk gemachten Sklavin richtig auszusprechen und sie deshalb Malinche genannt. Der Historienschreiber Bernal Diaz del Castillo hielt ihre Geschichte unter dem christianisierten Namen Dona Marina fest. Als Übersetzerin hatte sie zwischen Cortéz und Montezuma eine wichtige Vermittlungsposition inne. Marina hat die anmaßende Direktheit der spanischen Forderungen nach der sofortigen Ersetzung der alten Götter in höflichere und damit auch wirksamere Worte gefaßt.

Dazu nutzte sie die Zuschreibung der Göttlichkeit, die die Azteken an der Person Cortéz unternahmen. Cortéz selbst hatte stets verneint, eine Reinkarnation der „Gefiederten Schlange“ zu sein, die in den Mythen der Azteken eine zentrale Bedeutung hat. Undenkbar war es bis dahin, daß überhaupt eine Frau direkte Worte an den Herrscher der Azteken richtete. Dem Cortéz gebar Marina später einen Sohn, der in Spanien erzogen wurde und seine Mutter bei seiner Rückkehr als Indiohure beschimpfte. In Mexiko steht der Name Malinche bis heute unter negativen Vorzeichen, er meint eine Person, die ihr Land betrügt. Erst die amerikanischen Chicanas, eine feministische Bewegung von Frauen mexikanischer Herkunft, haben seit Beginn der 70er Jahre die Widersprüchlichkeit der Figur zwischen passiver Sklavin und aktiver Übersetzerin für ihre eigenen Anliegen produktiv gemacht.

Die österreichische Autorin Sabine Scholl, die seit vielen Jahren in Chicago lebt und eine im Vorjahr erschienene Essaysammlung mit dem programmatischen Titel „Die Welt als Ausland“ versehen hat, schlägt mit ihrem neuen Roman in eine ähnliche Kerbe. Die geheimen Aufzeichnungen Marinas katapultieren die Geschichte Malinches ins 21. Jahrhundert. Eine Ich-Erzählerin, die im Text nur mehr soweit präsent ist, daß an ihr gewissermaßen im Verschwinden die Vorstellung eines schreibenden Zentralsubjekts aufkommt, behauptet von sich, im Internet mehr oder weniger zufällig entsprechende Textfiles gefunden und heruntergeladen zu haben. Neben authentisch wirkenden Eintragungen der historischen Malinche gehören dem Konvolut die titelgebenden Aufzeichnungen Marinas, das Tagebuch einer gewissen Lilian, Notizen eines Eugénio, transkribierte Tonbandaufnahmen eines Dienstmädchen und das Reisejournal eines Herrn an, der sich Zé nennen wird, aber eigentlich Sepp heißt.

Das Buch Die geheimen Aufzeichnungen Marinas ist ein Montageroman der besonderen und der besonders interessanten Art, und zwar auch deshalb, weil man sich die Technik seiner Fertigung anders vorstellen muß, als man es vielleicht gewohnheitsmäßig bei solchen Texten tut. Nicht wurde hier mit der Schere an Papiermaterialien herumgeschnitten, stattdessen lagen die Textstücke ihrer Fiktion nach schon von sich aus als zerschnipselte vor, weil sie als Fragmente dem virtuellen Raum entnommen sind. In Scholls Buch sind nicht nur die Figuren, es ist auch der Raum simuliert, an dem sich die Figuren treffen. Oder besser gesagt: der Raum, an dem sich die Texte, die diese Figuren in sich tragen, überlappen, verzahnen und ineinander verschieben. Letztlich ist es nicht eine Geschichte von Figuren, die in den „geheimen Aufzeichnungen“ erzählt wird, sondern eine Geschichte von Texten, deren Leerstellen sich gegenseitig füllen und die an jedem Ort der Welt miteinander in Beziehung zu bringen gewesen wären, weil der Ort der Begegnung eben auch als ein virtueller existiert: Das literarische Schreiben ist solcherart den Bedingungen der Postmoderne eingepaßt.

Im ersten Teil von Scholls Buch gibt ein Wirtshaus inmitten der Wildnis den konkreten Rahmen der Begegnung ab, im zweiten Teil ist es eine Metropole südamerikanischen Stils. Die Stadt heißt Sao Zero und wird an einer Stelle die „graue Hölle“ genannt. Das Gasthaus im Urwald trägt den damit korrespondierenden und nicht unschönen Namen „Hotel zur grünen Hölle“. Der Betrieb wird von einer Frau namens Lilian geführt; vor vielen Jahren ist sie in den Urwald gekommen, um mit ihrem Mann einen Dokumentarfilm über die dortige Tierwelt zu drehen. Der Mann ist gestorben, Lilian und die gefangen genommenen Tiere blieben übrig – im „Hotel zur grünen Hölle“ finden sich später Sepp und Marina ein.

Sepps Reisetagebuch ist der klassisch-literarischste Teil des Buches. In ihm begegnet uns eine absichtsvolle Paraphrase auf Joseph Conrads wirkmächtige Erzählung „Das Herz der Finsternis“. Wie Kapitän Marlow auf seinem Kongodampfer dringt Sepp immer tiefer in den Dschungel ein. Die Erfahrung der Kontingenz, also die Tatsache, daß die Tropen allgegenwärtiges Wachstum und dieses Wachstum bedeuten allgegenwärtig sinnlos ist, trifft den Mitteleuropäer unvorbereitet, auch wenn er zur Vorbereitung seiner Reise in Berlin einen sogenannten Tropenkursus belegt hat. Im „Glitzerurwald“ fühlt sich Sepp plötzlich „irrsinnig“ klein, bald ist er ganz mit dem Inneren der Wildnis verwoben: „Efeu schießt gleich aus meinem Arm. Meine Finger haben sich verklebt angefühlt. Ob das Gummi oder Haut war? Der Raum zwischen Pflanzen und Menschen war verschwunden. Zu furchtbar, zu dicht, zu faul ist alles gleich geworden, was ich noch wahrnehmen habe können, ich war ein Teil davon.“

Daß die Zwischenräume verschwinden, das eine an das andere grenzt und insgesamt alles recht einfach zum Teil des anderen werden kann, führt zum eigentlichen Hauptthema von Marinas Aufzeichnungen. Die Figuren nehmen sich, um miteinander in Kontakt zu treten, gegenseitig ihre Geschichten und Identitäten ab. Texte und Bilder werden gedoppelt und ausgetauscht. In kaum einem anderen Buch ist bislang so viel fotografiert, gefilmt, gezeichnet, übersetzt, transkribiert und mit dem Tonband mitgeschnitten worden wie in Scholls Roman. Marina zeichnet die Stimme eines schwarzen Dienstmädchens auf, das – da in diesem Buch kein Name ein Zufall ist – mit Absicht Leni heißt und in Afrika eine Herkunft aber keine Heimat mehr hat. Marina übersetzt die Texte von Eugénio, in denen davon die Rede ist, nicht vor Europa kapitulieren zu wollen und eine „Republik von Mischlingen“ zu gründen. Und Marina steigt schließlich in die Vergangenheit ihres eigenen Namens hinab und zerrt alte Texte hervor, die teilweise in mehreren Sprachen geschrieben sind: „Kein Mensch sei so gefährlich wie ein Sklave, sagte er: Sglavn no futura. Sglavn so poor. Nothing to verliern. Y revolucción immer at any time possibile. Vahstess? Peligro! Bessa is let them go y servantes sein. Free es mucho bessa. Tiendes?“

In der aktuellen Zeitebene des Buches gehört Marina, deren Person sich schlußendlich wie eine Kante über das Konvolut der „geheimen Aufzeichnungen“ legt, einer nicht näher spezifizierten „Mission“ an. Ihr Auftrag ist ein zweifacher und er führt sie zweifach in die Vergangenheit zurück: Zum einen soll die Echtheit der Indio-Rituale am Amazonas überprüft, zum anderen die afrikanische Religion der Frauen in Sao Zero untersucht werden. Die Ergebnisse der beiden Suchaktionen schauen sich genau so ähnlich, wie es in Scholls Buch der tiefe Urwald und die Weltstadt tun: Nicht Reinheit wird am Grund gefunden, sondern ein Mischungsverhältnis, das die Dinge schon an ihrem Ursprung dominiert.

Für den gegenwärtigen Zusammenhang der österreichischen Literatur stellen Die Geheimen Aufzeichnungen Marinas vielleicht gerade deshalb einen so großen Glücksfall dar, weil das Buch in seinen Aussagen fast schon übertrieben programmatisch und auf eine internationale Weise „stylish“ ist. Sabine Scholl bringt mit ihrem Buch aber nicht nur Mode nach Hause, sondern auch etwas von dem, was im angelsächsischen und französischsprachigen Raum in der Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremde längst Standard ist: nämlich dieses Verhältnis als eine Chance und die Vorstellung von Reinheit als einen Mythos zu sehen. Xenophobe Kleinkrämerei fordert hierzulande ganz andere literarische Reflexe heraus und läßt dabei nur allzu leicht vergessen, daß eine Auseinandersetzung mit dem Thema auch in anderer Form möglich ist.

In einem ihrer Aufsätze zitiert Sabine Scholl den amerikanisch-mexikanischen Performancekünstler Guillermo Gomez-Pena, der die Rolle des Künstler als die eines „intellektuellen Kojoten“, eines „Medienpiraten“ und eines „Schmugglers von Ideen“ sieht. Seine volle Wirkung entfaltet der Schmuggler bekanntlich an geschlossenen Grenzen. Dort werden dann „Die geheimen Aufzeichnungen Marinas“ weltweit persuasiv: „Marina tritt etwas zurück. Nun sind die Zeichen wieder beruhigt und sie liest: Gringo, accept the doppelganger in your psyche!“

Sabine Scholl Die geheimen Aufzeichnungen Marinas
Roman.
Berlin: Berlin-Verlag, 2000.
258 S.; geb.
ISBN 3-8270-0348-2.

Rezension vom 24.09.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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