Ein Hauch von Fantasy haftet den Genre immer an, dies garantiert allein schon der fest eingeplante Hokuspokus, die geheimsten Regungen der Vergangenheitsmenschen in die Begriffe der Heutigen verwandeln zu können. Das schlichte Geheimnis des literarischen Erfolgsrezepts historischer Romane liegt eben in dieser Transsubstitution: Was einmal schon geschehen und nunmehr weg ist wieder her zu zaubern, und zwar als minutiöse Bebilderung des Ablaufs mit heutigen Worten; zu erklären, was nicht mehr zu erklären ist. Der historische Romancier ist der Gaukler unter den Historikern. Sein Verfahren ist verdächtig, die Wissbegierde der Leserschaft immer von einer Bereitschaft begleitet, sich Illusionen hinzugeben und sich das Vergangene über die Zeitschere hinweg am Gegenwärtigen vermessen zu lassen.
Der Roman erzählt das „unerhörte Leben des Jan Beukels“. Historisch dokumentiert als Jan Bockelson bzw. Jan van Leiden (1509-1536) ist er als Täuferkönig von Münster in die Geschichte eingegangen, 1534/35 stand er in der westfälischen Stadt an der Spitze eines kommunistischen Gottesstaats der radikalen reformatorischen Bewegung der Wiedertäufer. Nachdem die Stadt vom katholischen Bischof belagert und schließlich eingenommen worden war, wurde Jan Beukels gefoltert und qualvoll hingerichtet. Die literarische Bearbeitung dieses Stoffs durch Robert Schneider ist nicht die einzige, seit 2002 erscheint bei Piper ein fantastischer aus dem Italienischen übersetzter Reformationsroman unter dem Titel „Q“ von einem Autorenkollektiv mit dem Pseudonym Luther Blissett. Gegen diesen avantgardistischen Roman nach dem Programm des Neoismus, in dem die Wiedertäufer in Münster und Jan van Leiden auch Thema sind, liest sich der brave Geschichtsroman des Robert Schneider wie 19. Jahrhundert. „Kristus“ erzählt die Biographie Jan Beukels‘ vom achten Lebensjahr an mit den Schauplätzen Leiden, London, Lissabon und Münster chronologisch im Präteritum in einem Wechsel zwischen väterlich-auktorialem Erzählduktus und gelegentlichen Passagen aus der Innensicht in einer Art der erlebten Rede, um aus der Kindheit und Jugend und den dort erfahrenen Demütigungen den Werdegang zum Sektenführer trivialpsychologisch zu motivieren. Die Schilderung der Verwandlung Münsters von einem pluralistischen Zentrum konfessioneller Auseinandersetzung in die trostlose Diktatur des Täuferkönigs macht genau die zweite Hälfte des 600 Seiten starken Buchs aus. In der ersten Hälfte wird der Versuch unternommen, Jan Beukels, bevor er zum Scheusal mutiert, der Leserschaft sympathisch zu machen. Am Anfang steht: der kleine Jan in seiner kindlichen Einfalt schreibt in einem Schulaufsatz, er möchte Kristus werden; das trägt ihm eine Ohrfeige ein und dem Buch seinen Titel. Jan ist ein Muttersöhnchen, Epileptiker, sexuell gehemmt, in Londoner Haft vergewaltigt, ein religiös Suchender, Zweifelnder und Verzweifelter. Der Mangel an Liebe und Glauben stürzen ihn in den Nihilismus, der aus ihm schließlich den Tyrannen macht.
Das Sujet ist faszinierend, bei der Durchführung scheitert der Roman. Was sich in der opulenten Gestaltung an Spannung mühselig aufrecht erhält, wird im Showdown, den schaurigen Höhepunkten und dem Zusammenbruch des Gottesstaatsexperiments wohl irgendwie befriedigt. Doch fehlt der massenpsychologisch geschulte Blick für das Sektiererische, für die Dramatik des Vorgangs, wenn revolutionäre Utopien in brutalen Terror umschlagen. Das Monströse, das in der Christus-Imago des Täuferkönigs liegt, kommt nicht heraus. Was Jan Beukels antreibt und zwingt, seine Berufung anzunehmen, bleibt merkwürdigerweise erzählerisch ausgespart (siehe Leseprobe: die Schilderung des Berufungserlebnisses bei der Predigt des Wiedertäufer-Propheten Jan Matys in Leiden).
Und vor allem: Robert Schneiders Roman fehlt das Surplus der Gattung: ihre Selbst-Ironisierung; ihr Versuch, Authentizität durch Dokumentarismus herzustellen (durch einmontierte Quellen); die Überwindung des reinen Nacherzählens durch Fantastik. Alle diese neueren Mittel des historischen Romans kennt Robert Schneider nicht. Er praktiziert die naive Variante für den naiven Leser. Seine Erzählsprache besteht in Anklängen an die Sprache der Reformationszeit, manieriert, manches Mal (ungewollt) komisch. Das Zuviel an erzählerischen und sprachlichen Registern, Nebenfiguren und Nebenhandlungen, Schablonen und Attributen zerstört jeden Effekt. Man könnte sich hinsetzen und Adjektive streichen. Ein Drittel Umfang wäre mehr gewesen.