A. wie aufgeladen: A. wird zur Sprache selbst, „meine Sprache, also muss ich sie mir ausschreiben, um irgendwann meine eigene zu finden“. Es ist A., gleich einem Atemzug, die den Schreibzyklus des die Toten vergrabenden Skribenten, der unter einer drastischen Sehnsucht zu leiden scheint, bestimmt. A., an vorderster Stelle – danach werden bloß noch „B.“ bis „Z.“ in episodenhaften Szenen abgehandelt, bis A. am Ende wieder an den A. wie Anfang tritt. Wenn der Protagonist über „C.“, „D.“, „E.“ etc. erzählt, sind das meist seine Frauengeschichten im Sinne von unerfüllten Tinder-Märchen (als man noch daran glaubte, insofern man das überhaupt jemals getan hat), skurrilen One-Night-Stands, die meist im Vollsuff dann doch verhindert wurden, oder alten Liebschaften (oder deren späteren Arbeitskolleginnen). In so einem Totengräber-Leben kommt eben auch den warmen Körpern eine grundlegende Bedeutung zu, und das im eigentlichsten Sinn. Es ist das Ertasten und das Erwarten und der Versuch des Festhaltens der Liebe, vielleicht der wahren, der einzigen: A., um sie „nicht ganz zu verlieren“. Das Morbide liegt gleichsam in der Liebe wie im Sterben. Beim Schreiben etwas zu inszenieren, das nicht da ist, so drückt es der Schriftsteller in Mario Schlembachs Roman aus – das nicht mehr da ist, so eine Lesart. Die Inszenierung von Wirklichkeit erfüllt leeres weißes Papier mit Leben und tritt gegen den Tod an, der letzten Endes erst im Vergessen triumphieren kann.
„Ich schlachte mich aus und schaue nach, was noch übrigbleibt“, schreibt der Totengräber in sein „Zweites Heft“ und geht im dritten so weit, die vor Liebe und Wahnsinn leuchtenden Worte Werthers in einer elektronischen Textnachricht an „J.“ zu einem bloß noch fahlen Schein hinunterzubrechen: „Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weiß nicht …“ Auch die Nähe zu Bernhard entbehrt nichts an Inszenierung: die Inszenierung von Literatur und ihren Bezügen, deren Ausschlachten, die Opferwerdung als literarische Dimension.
An so manchem grauen, klirrend kalten Wintertag ist die Erde so hart, dass das Stemmeisen zum Einsatz kommen muss, danach: „Leberknödelsuppe. Schnitzel“ – auch, wenn man „den da unten“ nicht gekannt hat. Hin und wieder hört man eine Entschuldigung des Bestatters, „dass gerade so wenig los sei“. Leicht transportierter Galgenhumor eben. Unbestechliche Nüchternheit – wenn nicht gerade jene, die sich in den Blutwerten des Protagonisten widerspiegelt – und trotzige Monotonie in Tonfall, Erzählweise und Selbstdarstellung des schriftstellernden Gräbersubjekts spannt sich wie ein schützendes Sprungtuch unter die Schwere und Kälte und das immerwährende Tag- und Nachtwerk von Gevatter Tod. Die Abfederung gelingt wohl nur an der Oberfläche, verfehlt aber ihre Wirkung nicht; der (schwarze) Humor ist der beste Freund des Menschen. Doch das Umbetten von längst verleichten Leichen, das Platzschaffen für die frischen und das Beerdigen der Nächsten (hinter)lassen Spuren und nicht bloß die Einsamkeit durch jede Körperritze kriechen. Auch der A. wie Atem kann einem stocken oder hin und wieder schwer gelingen. Der Totengräber fängt sich eine Lungenkrankheit ein – es ist dieselbe, die Thomas Bernhard ereilt hat, über den der Protagonist in seinem Germanisten-Nebendasein eine Sprachstudie verfassen möchte. Nun muss er ein mühseliges Prozedere über sich ergehen lassen. Die Konfrontation mit der eigenen Verletzbarkeit und Vergänglichkeit rückt noch einmal näher an ihn heran. Und hier vermutet er eine Bedeutungsparallele: „Ein Virus vergräbt meine Lungenbläschen und nimmt ihnen damit die Funktion. Der medizinische Beweis des Totengräbers in mir?“ Thomas Bernhard hätte seine (dunkel-inszenierte) Freude, oder auch nicht.
In heute graben wird nahezu täglich gegraben, in der Erde genauso wie in der Hinterkammer Erinnerungsort; der Tod wird unweigerlich zum alten Bekannten, mit dem man sich – getröstet von der Erde, die einen mit feuchter, gefrorener oder weicher Sicherheit wieder aufnehmen wird, und „Schweinsbraten mit Serviettenknödel“ zum Leichenschmaus getrost an den Jedermann-Tisch setzen kann.
Die Liebe zwischen dem Totengräber und A. liegt wahrscheinlich nicht nur in der Unmöglichkeit des Jetzt, des Seins, sondern auch in einer Gemeinsamkeit begraben: „Menschen reagieren anders, wenn sie ihm [dem Tod] auf irgendeine Weise begegnet sind. Das Band zu anderen scheint getrennt und da ist diese unsichtbare Verbindung zwischen allen, in die er sich eingeschrieben hat.“ Ein wahrer Satz, der erst erschauern lässt – aber dann wird man sich erinnern.
Heute graben von Mario Schlembach: vielleicht eine Liebesgeschichte über den Tod (hinaus). Der sogenannte Himmel weilt der greifbaren Erde näher als gedacht, „Knock-knock-knockin’“…