Wie schon in Sautners Romadebüt „Fuchserde“ nimmt auch in Die Älteste die Kultur der vom Verschwinden gekennzeichneten ethnischen Gruppe der Jenischen eine zentrale Rolle ein. Lisbeth hat das tradierte Wissen der Naturmedizin verinnerlicht. Der Text erzählt jedoch keine Erlösungsgeschichte, sondern die Geschichte einer Irritation, die einen neuen Blick ermöglicht. Sophie bricht mit ausgeprägtem Skeptizismus in das Waldviertel auf, um einen neuen Weg zu versuchen: Was hat sie auch schon zu verlieren?
Lisbeth bringt die Städterin rasch dazu, die ‚comfort zone‘ zu verlassen. So badet Sophie im Schlamm, kriecht in die Erde und wendet sich dem bedrohlichen Bewohner in ihrem Kopf mit Liebe zu. Gleich zu Beginn ist Sophie überfordert damit, Feuer zu machen und meint, dass sie mit Holzstäbchen reiben soll, übersieht dabei aber die Glut, die unter der Asche schwelt. Viele Details machen anschaulich, dass es in den Prüfungen, die Lisbeth Sophie auferlegt, um einen Wandel des Wahrnehmens und eine neue Achtsamkeit geht.
Nun ist das Wahrnehmen ein breites Feld und die Dichotomie von Herz und Hirn ein Wagnis, denn schließlich sind auch die kulturellen Errungenschaften der Ältesten eine Folge von Beobachten, Erkennen und Schlussfolgern. Es bleibt nämlich nicht nur bei Selbsterfahrungen, die Sophie macht, sehr wohl weiß Lisbeth die Kranke auch mit naturmedizinischen Hilfen zu unterstützen. So verabreicht sie zum Beispiel Weihrauch, der täglich zu kauen ist. Verschiedene Untersuchungen der Schulmedizin zeigen im übrigen die entzündungshemmende Wirkung der im Weihrauch unter anderem enthaltenen Boswelliasäuren. Zusätzlich verabreicht die Älteste an den Bäumen wachsende Stockschwammerln.
Im Gegensatz zu Sophie, die nicht sterben will, will Lisbeths Enkel Josef nicht leben. In einer fast bizarren Szene behandelt sie diesen mit einer Radikalkur.
Nicht ausgespart bleibt die Verfolgung und Ermordung der Jenischen durch die Nationalsozialisten. Sophie erkennt an Lisbeth eine Tätowierung, die auf eine KZ-Inhaftierung verweist. Lisbeth erwähnt einmal beiläufig, dass „Hitler ihre halbe Familie ins Gas geschickt“ hat. Lisbeth wurde aus Auschwitz befreit. Doch nicht nur das persönliche Schicksal ihrer Familie, sondern der grundsätzliche Eingriff in das Naturell wird hier angeklagt: Dass das Fahren, das Herumziehen verboten bzw. verunmöglicht wurde und somit zu einer Entwurzelung der Jenischen geführt hat. Es ist dieser – eher im erzählerischen Vorbeigehen – angesprochene Aspekt, der aufmerksam macht: Nicht das Sesshafte schafft hier die Verwurzelung, sondern die Bewegung. So wurden aus jenen, die das Nomadentum als notwendiges Element ihres Wesens sahen eben „Betonjenische“, wie Lisbeth sagt. Sie haben sich angepasst und drohen gerade dadurch zu verschwinden.
Sautner hat das Porträt einer Frau geschaffen, die frei von Pathos ihre Wahrnehmung der Welt stellvertretend für eine Volksgruppe kundtut. Sie drängt Sophie nichts auf. Sophie, die am Anfang oft ablehnend reagiert, gewinnt bald Zutrauen und auch Lisbeth öffnet sich mehr der Fremden in ihrem Reich. Lisbeth verwendet mehrmals den Begriff „Egoverstand“, um eine bestimmte Qualität der westlichen Rationalität zu kritisieren. Dieser stünde einer Öffnung dem Leben gegenüber allzu oft im Weg. Immer dann, wenn die Gefahr berieselnder Esoterik droht, bringt Sautner jedoch eine bodenständige Szene, die den Geruch von allzu harmonisierender Metaphysik verweht. Das tut der Atmosphäre des Buches gut.
Ein kritisches Detail möchte ich dennoch anmerken: Es ist heutzutage Usus, jeden Text, der zwischen zwei Buchdeckel gepresst wird, als ‚Roman‘ auszugeben. Darüber, was ein Roman sein soll und ist, lässt sich gewiss lange streiten. Man kann aber nicht umhin, einige Faktoren dazu anzusprechen wie beispielsweise epische Breite und Tiefe mit entsprechendem Detailreichtum, entsprechendes Personeninventar oder eine das Innenleben auslotende Genauigkeit und eine Bereitschaft Ambivalenzen zu benennen. Warum nennt man nicht Erzählung, was eine Erzählung ist? Im anglo-amerikanischen Raum gilt der Begriff short story auch für längere Texte und vermindert nicht den Wert des Erzählten. Dieser Wert ist hier auch festzustellen: Thomas Sautner hat eine schöne, komprimierte Erzählung geschrieben. Mehr nicht.
Ein Reverenz erweist Sautner auch dem speziellen Dialekt der Jenischen, indem er immer wieder einzelne idiomatische Wendungen in die großteils eher wortkarge Rede der Ältesten einbaut. Manche Wörter sind auch dem Unkundigen leicht zugänglich wie etwa Neigiertsnosn, womit der Erkenntnisdrang auf liebevolle Art bekundet wird. Andere wiederum wie Romviechgschutzstsaschoamoe schaffen wohl eher ein phonetisches Erlebnis und regen die Fantasie an. Ein literarisches Buch muss ja auch nicht alles erklären – insbesondere nicht dieses.
Wie der Waldviertler Autor im Nachwort erwähnt, ist das Buch zu einem großen Teil Martin Flicker, dem Urenkel von Lisbeth W., zu verdanken, der heute die Anwendung von Heilkräutern lehrt und damit das Wissen von Lisbeth bewahrt.
Wie die Geschichte ausgeht sei hier nicht verraten. Zum Dank dafür mögen mir Autor und Verlag Spitzwegerich und andere Kräuter senden, für die ich immer gerne Verwendung finde.