Aber mit Postmodernität hat Sandner nichts am Hut, für ihn herrscht vielmehr eine Einheit europäischer Kultur quer durch die Jahrhunderte vor, der Zeitfaktor scheint ihm in kulturellen Belangen nicht von großer Bedeutung. Kein Wunder, daß viele seiner Gedichte aus italienischem, gerne aus römischem Boden wachsen – in jenem Arkadien also gedeihen, wo der Querschnitt durch die Jahrhunderte am ehesten lebbar ist. Daß sich der Autor der Gefahren seiner Grenzüberschreitungen in die anderen Jahrhunderte bewußt ist, macht seine Unternehmungen zusätzlich sympathisch, schützt aber nicht davor, daß so manche Querstrebe in seinem Textgebäude papieren wirkt.
Mitunter wandelt sich der schauende und sehende Gestus der Gedichte in einen erklärenden („denn Kunst hat niemals einen Krieg verhindert und / keinen beendet“), verseweise vermeint man es mit Epigrammen zu tun zu haben. Die Übergänge dabei sind fließend, manchmal scheinen die Zeilen auf eine Pointe hinauslaufen zu wollen, ins Oberlehrerhafte gleitet jedoch kein Vers ab. Da die Sandnerschen Texte ständig im Fließen sind und einen hohen Einsatz innerer Involviertheit des Ich aufweisen, kann sich der Leser schon in der nächsten Passage wunderbar verstrickt zwischen privater Mythologie und mythischer Privattopographie wiederfinden, wenn in die Textsematik Eigenes hineingelegt werden kann: Im Gedicht „Bitter Campari“ spielt der Autor geschickt mit dieser Austauschbarkeit – in diesem Fall von Erinnerungsmomenten, die von kleinen Signalen (etwa einem Glas Campari oder dem Namen eines italienischen Hafenorts) ausgelöst werden; im Gedicht „Das Leben ist hart in den Bergen“ wird der „persönliche Einsatz“ zu einer Verunmöglichung des Bergsteigens, die Assoziationen kommen dem Ich permanent in die Quere („das ganze Altertum im Gegenlicht“) und stören seine „Hochgebirgswahrheit“ (eines meiner Lieblingswörter im Buch).
Auch wenn Oscar Sandner das eine oder andere ?konkrete? Element in seine Lyrik einbaut (im Gedicht „Eine Brücke“ wird Vers um Vers ein wenig – „brückenbauend“ – verlängert) und den Versuch eines monovokalen Texts startet („Versuch mit U“), will er sich in keinerlei formales Korsett zwängen, viele Gedichte nähern sich durch häufige Enjambements der Prosa. Einzig mit der Anapher, der mehrmaligen Wiederholung desselben Wortes zu Versbeginn, greift er des öfteren zu einem rhetorischen Gestaltungsmittel.
Die Aufmachung des Buches wird dem Anlaß, den Doyen der Vorarlberger Literatur in einer Sammlung zu würdigen, gerecht, durch ein wenig zusätzliche Mühe beim Anhang hätte der Verlag die Edition allerdings perfektionieren können, etwa durch ein Inhaltsverzeichnis, vielleicht auch – bei einer Sammlung aus gut dreißig Jahren Schaffenszeit angebracht – durch ein alphabetisches Verzeichnis der Gedichte oder durch die Trennung von Textnachweisen und Anmerkungen, was die Übersichtlichkeit sehr gesteigert hätte. Die Auswahl ermöglicht jedenfalls ein lustvolles Querlesen und Schmökern durch ein Potpourri privater Mythologien und Topographien, die Etüde zu Hugo von Montfort etwa ist besonders unterhaltsam. Wenn nicht gerade Kaliber wie „karmesinrot tropfen Mozarts Kadenzen in den / Bottich des Ozeans“ dazwischen kommen (seien sie auch ironisch gemeint), können Sandners Texte durch Leichtigkeit bestechen – Leichtigkeit auch im Deftigen, im Melancholischen oder selbst bei jenen grundlegenden Fragen, die am Horizont des Sehens auftauchen.