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Der Berg

Gerhard Roth

// Rezension von Arno Rußegger

Wenn filmhistorisch gebildete Schriftsteller sich anschicken, ihre cineastischen Vorlieben literarisch umzusetzen, wird meistens ein Thriller daraus, der im Kino endet; und da Ungewißheiten immer schon eine besondere Faszination auf Gerhard Roth ausgeübt haben, war es nur eine Frage der Zeit, bis er zwangsläufig ein Buch im Geiste von Michelangelo Antonionis Blow up (1966) schreiben würde. Gleichsam, um volles Risiko zu gehen, hat Roth in Der Berg mutig noch ein paar Anspielungen auf Alfred Hitchcocks Der unsichtbare Dritte (North by Northwest, 1959) eingebaut, dessen Schlußsequenzen bekanntlich auch einen berühmten Berg ins Bild setzen.

So bekommen wir zwar zu lesen, daß es um „die Geschichte eines Mannes“ geht, „der nicht wußte, in welches Verbrechen er hineingezogen wurde“ (S. 119); die Spannungsmomente, denen – bei ähnlicher Ausgangssituation – Hitchcocks Figur Roger Thornhill ehedem mit scheinbarer Selbstverständlichkeit ausgeliefert war, sind im Falle des Journalisten Viktor Gartner aber nicht ohne weiteres auszumachen. Dagegen stehen nämlich Roths bildungsbürgerliche Attitüden und eine Unangemessenheit sowohl der Erklärung als auch der Verrätselung von bestimmten Sachverhalten. Während jene in gelungener Kriminalliteratur unversehens und überraschend sich ineinander verstricken, wirken im vorliegenden Fall viele Details wie aus dem Konversationslexikon oder einem Reiseführer exzerpiert; hingegen bleibt vor allem die Gesamtkonstruktion der Geschichte im Dunkeln. Schon auf den ersten Seiten des Romans nötigt der Einstieg in den Handlungsverlauf dem Erzähler umständliche Ausführungen bezüglich der zentralen Vorgeschichte des Ganzen ab: „Er [Gartner] wollte den serbischen Dichter Goran R. im Kloster Chilandar auf dem Berg Athos ausfindig machen. R. hielt sich dort angeblich versteckt, weil er im Jugoslawienkrieg Augenzeuge [im Klappentext heißt es: „unfreiwillig Zeuge“] des Massakers von S. geworden war, bei dem sechstausend bosnische Moslems ermordet worden waren.“ (S. 11) Um seinen Plan überhaupt in Angriff nehmen zu können, muß Roth den „noch vor einer Woche […] zu den angesehensten Redakteuren seiner Zeitung“ gehörenden Gartner rechtzeitig einen Presseskandal provozieren und daraufhin „kurzfristig zum Wochenend-Journal stafversetzt“ werden lassen, weil dieser in einem Artikel „einen Politiker beschuldigt hatte, von einem illegalen Waffengeschäft gewußt zu haben, ohne dies aber juristisch beweisen zu können.“ (S. 10) Ja, ja, so einer ist der Gartner! Kein Wunder, dass er, die Spürnase, selbst offensichtlich unter Verfolgungswahn leidet, weshalb er einen Teil seiner persönlichen Notizen stets zu chiffrieren pflegt. Andererseits wird praktisch jede seiner penibel-sensibel wiedergegebenen Wahrnehmungen als bedeutsam hingestellt, keine darf als zu beiläufig erscheinen, um nicht gleich irgendein Meisterwerk aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien assoziierbar zu machen.

Was aber Gartner von „Goran R.“ eigentlich will, wenn er ihm im Finale von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, bleibt aus dem Spiel bzw. wird trivial reduziert auf ein Interview – was sonst? Warum aber sollte der untergetauchte Dichter bereit sein, ausgerechnet dem sensationsgeilen Gartner Rede und Antwort zu stehen? Als genau dieses Problem thematisiert wird (vgl. S. 262), wissen weder der Journalist noch sein Erzähler einen plausiblen Grund zu nennen. So ist es auf verquere Weise sogar konsequent, wenn am Ende nicht Gartner „Goran R.“ findet, sondern umgekehrt (vgl. S. 276) – und sowieso nicht auf dem Berg Athos, sondern in Istanbul. Dass die zentrale Frage („Was hat sich in S. ereignet?“, S. 276) natürlich nur „mit einem langen Schweigen“ (S. 277) bedacht werden kann, hätte sich Gerhard Roth nicht erst nach knapp 300 Seiten zu Herzen nehmen müssen.

Dem kann man freilich entgegnen, der Autor habe gar nicht beabsichtigt, einen „wirklichen“ Krimi zu schreiben. Ihm sei es eher darum gegangen, die schillernde Atmosphäre einzufangen, die den heiligen Berg Athos beherrscht und einer surrealen Verklärung sämtlicher Phänomene dienstbar gemacht wird. Das besagt doch schon der Klappentext, wie auch die dortige Kundgabe des zur Anwendung gebrachten Verfremdungskonzepts: „Nichts ist in diesem Buch, wie es zu Anfang zu sein scheint.“ Daher also die unzähligen Hinweise auf sich permanent verändernde Bilder und Ikonen, auf deren verschiedene Schichtenstrukturen und Rasterungen, die bestimmte Perspektiven voraussetzen.

Gut. Nehmen wir Der Berg als eine Art Parabel auf die Unmöglichkeit, Identitäten zu fixieren. Tatsächlich gelingen Gerhard Roth in manchen Beschreibungen von optischen Konfigurationen und Metamorphosen die besten Passagen. Was dennoch fragwürdig erscheint, ist, dass die geschilderten Ereignisse nicht einmal eine ambivalente, sondern letztlich gar keine Aufklärung erfahren. Sie werden stattdessen Teil eines umfassenden Prozesses kunstvoller Ästhetisierung, indem sie einer phantastisch ausschweifenden, vor allem auf der Tradition orthodoxer religiöser Schriften und Mythen beruhenden Hermeneutik unterzogen werden. Das geht so weit, dass auch beim berüchtigten „Massaker in S.“ nichts anderes geschehen sei, als „Goran R.“ prophetisch in seinen Gedichten schon längst vorausgesehen haben will … (vgl. 277)

Ist eine derartige Remythisierung von Zeitgeschichte legitim? Ist sie ernstzunehmen, während man noch hoffen darf, dass wenigstens einige Kriegsverbrecher konkret zur Verantwortung gezogen werden können? Kann man auf diese Weise ironisch sein? Warum enthält Gerhard Roth seinen Lesern die geschichtsträchtigen Gedichte „Goran R.“s vor? Was soll die Verklausulierung einiger Namen sowohl im Erzählertext als auch in den Dialogen? Wird hier die Geheimdienst- und Thrillermanier nicht mißbraucht, um einerseits naseweis alles „offen“ lassen zu können und andererseits einen Bereich des Bedeutenden schlechthin vorzugaukeln? Ist es vielleicht das, was Gerhard Roth wollte?

Ich wage nicht, das alles zu entscheiden. Zu brüchig, trotz aller Kunstfertigkeit, ist der Text, wenn man den Wortlaut genauer unter die Lupe nimmt: Kann etwa ein Affe wirklich „obszöne Gesten“ machen, noch dazu „mit seinem Geschlechtsteil“, wie auf S. 70 behauptet wird? Was ist ein „Gemisch aus Terpentin oder Politur“ (S. 180)? Was passiert wohl, wenn Photos „grünlich und bräunlich [oszillieren]“ (S. 303)? Hat eine Heftseite, „die aus dunklen, wolkenförmigen Schraffuren bestanden“ (S. 190), nicht mehr als eine grammatikalische Schwäche? (Es ließen sich übrigens noch weitere Pluralfehler in verzweigten Satzgefügen nachweisen; vgl. S. 271: „- die Kälte und Hitze des sommerlichen und winterlichen Wassers trieb ihr Spiel mit ihnen.“)

Zu unstimmig sind auch die Figuren, die in der Geschichte auftauchen und verschwinden, wie es gerade kommt. Warum hindert Gartners häufig beschriebene Feinsinnigkeit ihn nicht daran, sich in der Mönchsrepublik wie ein postmoderner James Cook auf den Osterinseln zu benehmen, wenn er beispielsweise einem Arbeiter einen kleinen Taschen-TV-Apparat schenkt, um eine Information von ihm zu erhalten? Warum verstößt er wie der ignoranteste Tourist dauernd gegen alle Gebote zwischenmenschlichen Respekts, nur um ein Foto schießen zu können? Warum besteht das Ende etlicher Kapitel darin, dass es finster wird und Gartner einschläft? Warum soll ich ihm schließlich glauben, wenn er sich auf der letzten Seite für die korrupten Titelblattmeldungen „haßt“ (S. 306), die er mitproduziert? Ist am Ende wirklich nicht mehr zu sagen, als was schon zu Beginn bekannt war, dass nämlich „der gesuchte Dichter ‚unserem Redakteur Viktor Gartner‘ erklärt habe, Zeuge des Massakers in S. gewesen zu sein.“ (S. 306)

Wozu also der gewaltige poetische Aufwand, den Gerhard Roth getrieben hat? Für ihn fällt der Vergleich mit Antonioni, der eingangs angestellt worden ist, jedenfalls ungünstig aus. Ist es dem Filmregisseur mit Blow up gelungen, das klassische künstlerische Dilemma von Sein und Schein unter den Bedingungen fotografischer Medien in den sechziger Jahren darzustellen und weiter zu reflektieren, so wirkt demgegenüber Der Berg hypertroph und aufgeblasen – phasenweise durchaus schön zu lesen, aber sicherlich keine literarische Gipfelleistung.

Gerhard Roth Der Berg.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2000.
314 Seiten, gebunden.
ISBN 3-10-066612-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 18.07.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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