In einem solchen literarischen Genre ist es erfreulich, einmal mit einem Text konfrontiert zu werden, der weder die frühen Stadien der „großen Liebe“ zum Inhalt hat noch Beziehungsleben als bequem glorifiziert.
Sex ist die Antwort von Karin Rick ist eine Herausforderung für die LeserInnen. Der Roman verlangt von ihnen, ihren Hunger nach Märchen hintanzustellen und die Realität erwachsenen Begehrens zu erforschen.
Die Romanhandlung konzentriert sich auf eine besondere Phase im Leben der Protagonistin, in der diese sich mit der Frage auseinandersetzen muß, wen sie nun wirklich liebt, ihre Ex-Freundin Felicitas oder die neue Partnerin, die SM-Frau Kaye. Der Plot – Protagonistin begehrt praktizierende Sadomasochistin und ist gleichzeitig noch in nostalgischen Gefühlen zu ihrer früheren Liebe gefangen – erlaubt es der Autorin, lesbische Beziehungen mehr als Ort des Zwistes denn als einen der Harmonie darzustellen.
Der Konflikt, der dadurch entsteht, ist nicht bloß der zwischen Begehren und der Unmöglichkeit, die eigenen Bedürfnisse in einer Beziehung ganz befriedigt zu sehen. Der innere Monolog der Protagonistin erinnert uns an die intrapsychischen Prozesse, die ablaufen, wenn wir uns verlieben und gleichzeitig mit einer anderen zusammen sind, zu der eine gewisse Abhängigkeit besteht. Die daraus resultierende Ambivalenz stellt einen starken Kontrast zu den Sicherheiten der reinen Romanze dar.
Aber mehr noch. Die Beziehung zur Lederfrau Kaye illustriert, wie sexuelles Begehren zur willkommenen Ablenkung von nicht erfüllten Wünschen werden kann (selbst wenn wir uns selten bewusst sind, dass genau das passiert). Die Frage, auf die Sex die Antwort ist und die den ganzen Roman durchzieht, lautet: „Wie können wir uns von schmerzhaften Emotionen und unerfüllter Liebe ablenken?“ Selbst wenn es so aussieht, als ob sich die Protagonistin in der zweiten Hälfte des Romans in ihre neue Liebhaberin verliebt, erfährt das Bemühen um die alte Liebe dadurch bloß einen kurzen Aufschub. Trotz Momenten emotionaler Nähe zwischen der Protagonistin und der Lederfrau geht die Tendenz des Romans in Richtung Vereinigung mit Felicitas, und dies trotz des sichtbaren Seelenschmerzes, der in der Verbindung mit dieser vorherrschte.
Dieser Roman jedoch ist nicht nur im Genre „lesbische Liebesgeschichte“ angesiedelt, er gehört auch zu den lesbischen Erotica. Karin Rick vermeidet es, den Text mit heterosexuellen Inhalten zu domestizieren und konzentriert sich ganz auf die Anziehung zwischen Frauen. Deshalb sollte der Text auch durch die Linse von Judith Butlers theoretischer Kamera gelesen werden und nicht in der Tradition männlicher erotischer Erzählhaltung.
Die Darstellung von Leder und Fetisch, die Austauschbarkeit von Dominanz und Unterwerfung beim sexuellen Akt, die Beschreibung von Kaye als Frau, die gerne mal einen Schwanz verwendet, das alles hat nichts mit dem Kitzel zu tun, den Männer verspüren, wenn sie zwei Frauen im sexuellen Akt fantasieren, und ist schon gar nicht eine nette Mimikry heterosexueller Muster. Im Gegenteil. Hier wird jene Perfomativität deutlich, auf die es Butler sosehr ankommt. Wirkungsvoll zeigt Rick die Durchlässigkeit der Grenzen, innerhalb derer Frauen ihr sexuelles Begehren ausdrücken. Die Figur der Kaye bringt uns zu Bewusstsein, dass diese Praktiken vielleicht gar nicht so grenzüberschreitend sind, wie Felicitas‘ Ablehnung und die Angst der Protagonistin vor einer öffentlichen Zur-Schau-Stellung derselben es nahe legen könnten. Sie sind viel mehr Teil eines reichhaltigen Kontinuums sexueller Lüste, denen Frauen huldigen.
In der Charakterisierung von Felicitas‘ Unbehagen bezeichnet Rick auch die Beschränktheit unserer sexuellen Sitten. Ihre Ablehnung gemahnt uns daran, dass die Butler’sche Argumentation bei uns zwar intellektuell auf Resonanz stößt, unsere Toleranz aber, wenn es darauf ankommt, sowohl durch unsere Sozialisation als auch durch das vorherrschende soziale Klima in Schranken gewiesen wird.
Die Grenzen der Freiheit unserer sogenannten „permissiven“ Gesellschaft werden vor allem in Kayes Kunst deutlich. In einer postmodernen Gesellschaft ist der modernistische Begriff des Obszönen angeblich nicht mehr relevant. In Kayes dreidimensionaler Verherrlichung weiblicher Sexualität jedoch treffen wir auf das letzte noch existierende Tabu. Rick illustriert, wie eine solche Verherrlichung den gängigen Mustern von Akzeptanz und Akzeptierbarkeit zuwiderläuft.
Gleich zu Beginn des Textes reagiert eine Galeriebesucherin, eine Mutter mit Kind, negativ auf eine Skulptur Kayes, eine multiple Vagina. Sobald sie das Objekt erkennt, zieht sie ihr Kind von der Plastik weg und verlässt entsetzt den Raum. Der hier gezeigte Abscheu ist eindeutig von Scham geprägt, und von Angst – vor dem Organ, das uns Frauen Lust verschafft.
Gegen Ende des Textes ist die Protagonistin über eine Skulptur, die Kaye von ihr gemacht hat, schockiert. Kunst ist gefährlich, erinnert uns der Text, und erotische Kunst stellt immer noch eine besondere Bedrohung dar. Die BetrachterInnen verwechseln sie immer noch mit der Realität und reagieren entsprechend darauf – unabhängig von den Bemühungen der KritikerInnen und Intellektuellen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Die Ablehnung dessen, was als obszön angesehen wird, zeigt, dass die Moderne weiterlebt, und warnt uns davor, die Befreiung der Postmoderne als gegeben anzunehmen.
Das postmoderne Paradoxon dieses Romanes ist es übrigens, dass der Text selber ein Paradebeispiel für jene Kunst ist, auf die die Charaktere des Buches so negativ reagieren. Die Protagonistin hat Angst davor, durch das Kunstwerk den Blicken der anderen ausgesetzt zu sein. Kayes Angst vor öffentlicher Demütigung ist so groß, dass sie die Skulptur zerstört und damit ihr eigenes Werk zensuriert. Ricks explizite Porträts sexueller Handlungen werden nicht zensuriert, sondern durch die Publikation des Romans öffentlich gemacht. Rick gelingt das, was der Künstlerin im Text versagt bleibt.
Die Beschreibung von sadomasochistischem Sex in Ricks Text stellt die physische Manifestation der Grausamkeit dar, die auf emotionaler Ebene zwischen der Protagonistin und Felicitas abläuft. Auf sexueller Ebene leben Sadistin und Masochistin Fantasien aus, mit denen sich beide Partnerinnen einverstanden erklärt haben. Die Beziehung zwischen der Protagonistin und Felicitas wird davon geprägt, dass Felicitas für die emotionalen Bedürfnisse der Protagonistin vollkommen taub ist, eine Taubheit, die in der Beschreibung von Felicitas‘ verbalem Sadismus gut zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz zu den sexuellen Spielen zwischen der Protagonistin und Kaye beruht diese Interaktion jedoch nicht auf einem Konsens. Trotzdem liebt die Protagonistin die verbale Sadistin mehr als jene Frau, von der sie in all ihrer „Perversion“ akzeptiert wird. Und: Auch ohne den Schmerz, der dem Körper zugefügt wird, kann es genug Pein in anderen Bereichen der Beziehung geben. Daran gemahnt uns Rick.
Für mich sind der Mangel an Akzeptanz, den Felicitas zur Schau trägt, und die Darstellung ihrer emotionalen Taubheit Herzstück des Romans. Die Beschreibung jener tagtäglichen Taubheit in Beziehungen, welche die erste Phase der Verzückung hinter sich haben, fehlt in den meisten lesbischen Liebesgeschichten. Indem sie über süßen „Vanilla Sex“ schreiben, lullen deren Autorinnen uns in falscher Sicherheit ein. Wir sind mit der sexuellen Romanze so beschäftigt, dass wir den Rest vergessen.
Eine der am wenigsten attraktiven Aspekte so mancher lesbischer, erotischer Erzählung ist für mich die undifferenzierte Beschreibung nicht endenwollender Gewalt. In Ricks Text jedoch schafft die Lust an der Verführung, die die Protagonistin und ihre Ex-Liebhaberin miteinander teilen, einen Ausgleich zum Spannungsfeld aggressiver Sexualität. Die Fähigkeit der Autorin, Konflikte und Perioden intensiver, zärtlicher Zuwendung in schneller Folge aneinander zu reihen, macht uns hellhörig für die Gründe, warum wir uns zu jenen hingezogen fühlen, die uns emotional und verbal missbrauchen. Der Austausch von kleinen Krampusgeschenken zwischen der Protagonistin und Felicitas, ihr gemeinsamer Spaziergang im Schnee, die von Reminiszenzen gezeichnete Rückgabe von Kleidungsstücken, die letzte Szene des Haareschneidens sind Ausdruck von Liebe, können aber auch als jene Form der Verführung angesehen werden, die emotionale Demütigung erträglich macht.
Für die Protagonistin resultieren diese Momente aufmerksamer Hinwendung in einer selektiven Amnesie, mittels derer sie Schmerz, Wut und Verletzungen ignorieren kann, und damit in den Zustand der Romanze zurückfällt, die in einem so heftigen Kontrast zum Rest des Romans steht.
Dieses Buch ist also nicht bloß Erotik. Sexuelle Befriedigung durch die Lektüre ist nicht seine Intention. Seine Möglichkeiten, durch die Darstellung von Sex zu erregen, sollten nicht von der Hand gewiesen werden, und es gibt genügend Gelegenheiten, bei der Lektüre geil zu werden. Aber der Text ist deutlich mehr als das.
Dieser Roman zeigt lesbische Beziehungen in all ihrem glorreichen Durcheinander. Als Orte von Gehässigkeiten, Ambivalenz und Verrat, von schmerzhafter Eifersucht und daraus resultierenden Gefühlen von Unsichtbarkeit. Kurz gesagt trivialisiert und sentimentalisiert er reales Leben nicht, indem er eine vaselinegeglättete Version der Realität wiedergibt. Vielmehr zeigt er, wie Mitglieder einer identifizierbaren Minderheit selber schnell bereit sind, Individuen zu unterdrücken, die nicht in ihre Kategorien passen. (Felicitas‘ Angst und Abscheu vor Sadomasochismus, sichtbar in den sarkastischen Wortfetzen, die sie der Frau, die sie liebt, zuwirft).
Sex ist die Antwort ist jedoch nicht nur unerbittlich düster. Eine der vielen Stärken dieses Buches ist, dass es mit Momenten von Farce und Ironie gespickt ist. Rick ist eine Autorin, die keine Angst davor hat, Bilder zu schaffen, in denen die Leserin über ihre Protagonistin und die Situationen, in die sie sich begibt, lachen kann. Angefangen von der großartigen Szene auf der Toilette, über die eifersüchtigen Kommentare zur neuen Liebhaberin der Ex-Freundin („mit einem Körper wie ein Tabakbeutel“), bis zur Wahl ihrer Kleider, wenn sie in Wut gerät – all dies gemahnt die Leserin daran, dass Beziehungen oft bizarre Komödien aus unserem Leben machen.
Wie alle guten Liebesromane scheint auch dieses Buch ein Happy End zu haben. Im Gegensatz zu den Märchen jedoch spüren wir, dass die Protagonistin und ihre große Liebe nicht bis ans Ende ihrer Tage glücklich miteinander weiterleben werden.