Klischees bedürfen genausowenig einer echten Legitimation wie das natürlich ererbte Charisma eines „Gottes in Frankreich“ (S. 15). Und im übrigen „ist die ‚grande nation‘ ja nicht nur aus den Blutströmen der Revolution und anderen Gemetzeln hervorgegangen, sondern war schon längst von Gottvater selbst zu ihrer Größe bestimmt“ (S. 28).
So sieht sich der Leser einem kaleidoskopischen Schnellkursus in Landes- und Kulturkunde gegenüber, der an den allgemein-historischen Teil eines Reiseführers zu Land und Leute erinnert.
Wer Rezzori gelesen hat, weiß zwar, „mit welcher Autorität [in Frankreich] mit jeder persönlichen auch eine offizielle Ansicht geäußert wird“ (S. 52), dafür aber noch lange nicht, welcher grundsätzlichen Haltung eine derartige Ansicht entspringt. Nicht weil die Franzosen private Weltgeschichte betrieben, sondern weil in ihrem Land die Debatte sofort ideologisch und leidenschaftlich wird, erschüttert sie zu gleichen Teilen die Grundfeste der Gesellschaft und die Grenzen der individuellen Psyche. In Frankreich geraten die pragmatischen Fragen zu unmittelbar ethischen (was Rezzori offensichtlich „echappiert“. Das Allgemein-Politische tendiert dazu, das Allgemein-Menschliche zu werden und nicht umgekehrt.
Daß in der französischen Sprache von der Geburt bis zum Tode [inklusive des dazwischenliegenden Lebens als „bourgeois“ (Welt-Bürger) und/oder „citoyen“ (Staats-Bürger)] alle Existenzäußerungen von Bedeutung genuin weiblicher Natur sind, veranlaßt den Frankreich-Kenner alter Tage zu dem für das schmale Bändchen folgenreichen (Trug-)Schluß, Frankreich auch noch zum „Gottesland der Frauen“ abzustempeln. Bei Rezzori hört der (französische) Artikel auf, bestimmtes Symbol zu sein und übernimmt die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten. In der Folge löst es die materielle Realität zugunsten einer psychischen auf, die keineswegs mehr mit den tatsächlichen Eigenheiten des zu Beschreibenden korrespondiert. – Das Land nimmt die Form einer leidenschaftlichen Französin [die „Französischheit“ (S. 86)] an, in deren begehrenswerten Körper alle nur vorstellbaren, geistig-kulinarischen Franco-Absurditäten eingeschrieben werden.
Die soziale Wahrheit liegt jedoch ganz woanders. Sie wird im Buch nur mit einer einzigen phrasenhaften Äußerung erwähnt, wo von der Einwanderungsflut aus ehemaligen Kolonialgebieten, „die sich über ganz Frankreich ergossen hat und in Städten wie Marseille beängstigende Dimensionen annimmt“ (S. 87), die Rede ist.
Des Schreibers (herrschaftlicher) Blick geht also fallend von oben nach unten und übersieht in dieser unwillkürlichen Abwärtsbewegung, daß die klassischen Beweise ihrer Stärke von der französischen Kultur schon über Jahrhunderte (an Beispielen mangelt es Rezzori wahrlich nicht!) erbracht worden sind. Aber heute ist Frankreich dabei, Ankömmlinge aufzunehmen, die auf ihre Besonderheiten nicht verzichten und handfeste Probleme bereiten, deren anderer Name Multinationalität ist. Wenn es allerdings nach Rezzori geht, so darf gehofft werden, daß sein „Lehrfall von Epochenverschleppung“ (S. 82) in der Vorstellungswelt des Lesers nicht Schule macht, noch dazu, wenn hemdsärmelige Illustrationen des Autors das Wort im Bild zu unterstützen versuchen.