Die Anmutung des Flaumfederhaften von Gattung und Titel freilich wird trotz der mehrheitlich kurzen Texte bald schon gründlich in Frage gestellt. Alle Gedichte baumeln zwar optisch an einem vorangestellten Doppelpunkt, der wie ein Aufhänger für eine Christbaumkugel oder einen Ohrschmuck wirkt und so auch optisch eine gewisse Leichtigkeit erzeugt, auch die grafisch aufbereitete Links- oder Rechtsbündigkeit der Texte gaukelt eine Verspieltheit vor, die in den Gedichten jedoch so nicht wiederzufinden ist.
Auf das erste Anlesen geben sich die Verse von Sophie Reyer eher sperrig, wirken wie scheue kleine Tiere, die den Leser nur vorsichtig und Schritt für Schritt an sich heranlassen. Die Autorin würde eventuell die englische Bezeichnung step by step bevorzugen: die Vielzahl von Anglizismen ist nicht zu übersehen, gefühlt jeder dritte Text weist sie auf, und was anfänglich in positivem Sinne irritiert, wird mit zunehmender Häufigkeit doch eher ermüdend, da sich nur in wenigen Fällen ein echter poetischer Gewinn einzustellen vermag. Wo die Autorin auf solche Manierismen verzichtet, finden ihre Gedichte jedoch oft zu großem poetischem Ausdruck:
:
in die armbeuge
gehst mit den
augen (trau
dich mir
zu)
(S. 47)
Hier gehen Inhalt und innere wie äußere Form eine echte Symbiose ein, zumindest wenn man die Verse als Beziehungsgedicht liest.
Sophie Reyers Texte verweigern jedoch konsequent eine eindeutige Lesart, sie zwingt mit Zeilensprüngen, Stab-, Binnen- und Augenreimen den Leser immer wieder zu einem neuen Ansetzen: „: cherosin://das choralvorspiel der/blätter ein raspeln aus//stille und wind./abgebrochener ichrest.//resting in your arms. (S.33). „: der schmerz hat schluckauf die/alte geschichte des atmens ach/sei nicht hysterisch hyperbel/girl mit dem hüpfenden hickup/(pick up your/kehlkopf/knopf)“.
Unwillkürlich fühlt man sich an ähnliche zweisprachige Spielformen von Ulrike Draesner oder an Uljana Wolfs „falsche freunde“ erinnert. Verharrt das im bilingualen Experiment? Will das eine kosmopolitische Haltung dokumentieren oder persifliert es sie gar? Diese Fragen muss letztlich jeder Leser für sich selbst beantworten, Sophie Reyers Verse tun es nicht.
Die formale Vierteilung des Bandes „flug(spuren)“ folgt der Perspektive der Sicht auf die Dinge, der Sicht auf das Leben an sich. Er beginnt mit „miniaturen (froschperspektive)“, setzt sich fort in „kleinzeiler (parallelprojektionen)“, unter denen sich die größte Anzahl von Texten findet und schwingt sich schließlich auf zu „stream (vogelperspektive)“, dem abschließend in einem „epilog: froschperspektive“ sieben ganz kurze Gedichte nachgeordnet sind, die man vielleicht als eine Art geläuterte Rückkehr zum Ausgangspunkt verstehen kann.
Der Grundtenor von Sophie Reyers „flug(spuren)“ ist vor allem atmosphärisch auszumachen: hier scheint sich ein lyrisches Ich nach dem Aufgehobensein zu sehnen, fühlt sich ausgespien aus dem Seinskosmos und wird immer wieder auf ein (un)menschliches Maß zurückgestutzt: „:saft/samt//sommer/(ich bin nur ein/zerspaltener/gast).“ (S.48). Dieser innere Konflikt führt mehr und mehr in die Verletzlichkeit, gar in das aktive Handanlegen an sich selbst, das sich jedoch mit einer gewissen trotzigen Traurigkeit auch gern der Umwelt zur Schau stellt: „…syndrom/borderline. in rot sein./trotzdem.“ (S.96).
Dem diese Verletzlichkeit illustrierenden und immer wiederkehrenden Vokabular um Begriffe wie „ritzen, schmerz, vagina, wunde, ader“ stehen auf der anderen Seite die Worte entgegen, die Transzendenz aus diesem Jammertal verheißen: „licht, ruhe, wolken flug, vogel“. Das ist nicht neu, und doch verwebt Sophie Reyer auf eigenständige Weise solche Schlüsselbegriffe miteinander und schafft ein Kaleidoskop aus Leiden und Linderung (ein anders mehrfach anzutreffendes Gegensatzpaar ist bezeichnenderweise „frost“ und „trost“). So inszeniert sie ihr ganz persönliches ecce homo-Erlebnis, welches freilich durch den Filter ihres lyrischen Duktus‘ poetische Allgemeingültigkeit erlangt. Das gelingt ihr über weite Strecken so gut, dass sie die weltpolitischen Aufreger Fukushima, Tschernobyl oder die Globalisierung aufzurufen eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte. Diese Konkretisierungen entpoetisieren die entsprechenden Texte bisweilen – es sind ihrer glücklicherweise nur wenige. Anklänge an weiter zurückliegende dichterische Traditionen hingegen, von der Paraphrase auf Celans Todesfuge über Rilkes „wachsende[ ] ringe“ (S.141) bis hin zur Integration eines (gekennzeichneten) Storm-Zitats gelingen ihr in beeindruckender Weise.
Am besten ist Reyer vielleicht an denjenigen Stellen, an denen sie ihre mitunter aufflammende aphoristische Wucht ganz lakonisch auf den Punkt bringt: „: die haupt/aufgabe://atmen gegen die/angst.“ (S.61). Sie sind in ihrer unverblümten Direktheit erfrischend wie ein befreiendes Lachen an der richtigen Stelle, auch wenn die Situation ausweglos erscheint. Den hoffnungsvollen Schlusspunkt setzt die Autorin mit ihrem letzten Zwei-Wort-Gedicht: „: we will“ (S.145). Egal, ob man es historisierend als ein „wir wollen“ oder als ein „wir werden“ liest – es wird interessant sein zu sehen, wohin sich die Schaffenskraft dieser vielseitigen jungen Künstlerin in den nächsten Jahren noch zu entwickeln vermag.