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Nachtmär

Elisabeth Reichart

// Rezension von Claudia Holly

Fünf kleine Negerlein, die durch den Verrat am ungleichsten Teil ihrer Gemeinschaft eben diesen verlieren, versammeln sich vor dem Leser. Mittels innerer Monologe soll die vergrabene Schuld langsam sichtbar werden. Marlen, Paula, Rudolf, Ingram: Seit ihrer Sponsion treffen sie sich einmal jährlich, um diesen Wendepunkt in ihrem Leben bei einem gemeinsamen Essen zu „feiern“. Das fünfte Rad am Wagen, Esther, ist seit dem nächtlichen Ausflug in den Prater, damals, als sie noch ein „geschlossene[r] Kreis“ (S. 8) waren, verschwunden.

Ineinander verschwimmende, sich gegenseitig überlagernde Zugeständnisse, Selbstvorwürfe, Motivierungsversuche und nicht zuletzt traumartige Ausritte in die Vergangenheit durchbrechen das „vertraute Nicht-Wissen-Wollen“ (S. 188).

Die Herkunft der „Kerngruppe“ scheint christlich-ländlicher Natur. Esther, Tochter ausgewanderter Juden, bildet vom Zeitpunkt ihrer Bitte um Aufnahme in die Gemeinschaft einen Gegenpol. Dem offiziell verordneten Bruch zwischen der Geschichte der Daheimgebliebenen und der Heimkehrer erwächst in der Gestalt Esthers ein potentieller Störfaktor, der die Unhaltbarkeit einer „geschichtslosen“ Haltung vor Augen führt.

Die Schmährede Rudolfs unter dem Riesenrad trägt vergleichbar einer Erinnerungsstütze das darauffolgende Geschehen. Die Abkehr von der schwangeren Esther, die die Gruppe um Hilfe ersucht, provoziert Unheil.

Um sich von ihrer Schuld abzulenken, hängen die Vier ihren Träumen nach. Marlen ist durch die Funktion als Nur-noch-Hausfrau frustriert und will sich wieder dem Schreiben widmen. Ihr Mann Viktor ist Schauspieler, für ihn schreibt sie Rollen. Das neue Stück wiederum soll von Rudolf, dem Dramaturgen, der Direktion vorgeschlagen und zur Aufführung gebracht werden. Paula, die „ewige Regieassistentin“ (S. 28), ist ebenfalls ein Teil dieser Tretmühle. Ingram, der Werbefilmer, muß dem Wunsch genügen, immer und überall die Reizschwelle zu durchbrechen. Mit dem Mitschnitt des Todes seiner Großmutter will er die ultimative Grenze setzen.

Sie alle winden sich von einer Lüge zur nächsten, von einem Traum in den anderen und bilden auf diese Weise Fixsterne inmitten ereignisloser Jahre, die umkreist werden von mehr oder weniger nichtssagenden Satelliten. Auch wenn sich vereinzelt die Gegenwart (Bombenterror in Österreich) zu Wort meldet, so arbeitet die Geschichte von diesen fünf Negerlein doch eines klar und deutlich heraus: Daß es unverzichtbar ist, zuerst die Lügen der Vergangenheit zu klären.

Nachtmär.
Roman.
Salzburg: Otto Müller, 1995.
247 Seiten, gebunden.
ISBN 3-7013-0913-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 13.08.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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