Vor dem Hintergrund eines tagespolitischen Szenarios, dessen Einfluß auf die künstlerische Produktion immer stärker wird, (ent)führt der in Irland lebende Dichter Christoph Ransmayr seine Zuhörer und Leser in eine Welt der scheinbar jungfräulichen Harmonie zwischen Mensch und Natur.
Er erzählt von einer Wanderung zu dem sagenumwobenen Ort am Meer – Glaisín Álainn. Sein Begleiter ist der Sohn jener Frau, die in den sechziger Jahren zur Besitzerin dieses Fleckchens Erde und somit zur Nachfolgerin des nach Australien ausgewanderten Liam O’Shea wurde.
Eamon, so der Name des irischen Freundes, berichtet von den Sonntagen, an denen Bewohner der umliegenden Dörfer „the platform“ regelmäßig aufsuchten. Des Sommers, um zu tanzen, zu musizieren oder von den legendären Begebenheiten aus der Vergangenheit zu singen und zu erzählen. Des Winters, um am Feuer von O’Sheas Hütte einem ähnlichen Vergnügen zu frönen, mit dem Unterschied, daß die beeindruckende und stimulierende Kulisse von Glaisín Àlainn vor der Tür lauerte.
Es ist die Magie des Ortes, welche die irische Festgemeinde vom Publikum zum Sänger, Tänzer, Musiker, Erzähler werden läßt. Die Schilderung dieser einfachen Kommunikationsmuster führt schließlich zu der Frage, wo die Wirklichkeit endet und das Theater, das Spiel oder der Ausflug in die Fantasie beginnt. Denn die Kulisse von Glaisín Àlainn, so hört und liest man, reicht über sich selbst hinaus und läßt ihre Protagonisten Grenzen überschreiten, die sowohl räumlich als auch zeitlich (die restlichen sechs Wochentage waren dem Alltag gewidmet) definiert sind. Einzig dort, „wo ein Mensch auf seiner Bühne zu Schaden kommt oder stirbt“ (S. 22), wäre die Schwelle zwischen wirklichem Leben und seiner Darstellung offenkundig.
Die verzaubernde Kulisse von Glaisín Àlainn verstärkt durch einen weiteren Aspekt ihren außergewöhnlichen Eindruck: durch die Aura der dritten Luft.
Am Krankenbett von Eamons Mutter erfährt der Erzähler von drei verschiedenen Lüften, die den Menschen durchs Leben begleiten: die erste Luft ist unmittelbar, ein konkret faßbarer Sinneseindruck; die zweite Luft legt sich über die erste – als eine Art Überkategorie; die dritte Luft allerdings ist von einem abstrakteren Wesen, erst durch sie werde das hinzugefügt, was zum vollständigen Bild der Welt noch fehle, erst in der Luft der Plattformen, Tanzsäle und Theater […], der Luft der Geschichten und der Verzauberung des Lebens in Lieder, verwandle sich beispielsweise ein ganzes Meer in ein einziges Wort, in eine Melodie, und rausche aus diesem Wort wieder hervor.
Christoph Ransmayr ist mit dieser Rede eine Fortsetzung seiner Reportagen Der Weg nach Surabaya gelungen. Man hat nach der Lektüre dieser wenigen Seiten das Gefühl, daß die gleichnishaften Geschichten aus dem Alltag einer Landschaft und ihrer Bewohner mittels einer beinah archaischen Kraft die Mängel der Gegenwart überleben.