Der Roman stellt uns verschiedene Protagonisten aus dem Inneren des Systems vor: Da wären die Wissenschaftler Franzer und seine neue Assistentin Buresch, die im Ministerium für Kunst und Kultur arbeiten. Sie untersuchen empirisch neue Gesellschaftsschichten. Zudem ist Franzer für den CP, den Cyberpeut, zuständig. Dieser Computertherapeut schickt an einzelne Gesellschaftsschichten passgenaue Fabeln – immer dann, wenn es ihnen u.a. langweilig ist. Ob über das xPhone gesendet oder im Wirtschaftsmagazin eingefaltet – zu jeder Lage eine Fabel. Der Clou: Der selbstlernende Computer verbessert sich ständig und produziert immer bessere Fabeln. Sie sind gar nicht von den Fabeln zu unterscheiden, die die Studenten des Creative-Writing-Seminars und deren Dozent Wachmann schreiben …
Doch Caren, Studentin von Wachmann und Tochter von Franzer, erkennt den CP als Drehpunkt des Systems: Sie hackt sich in die Software ein und serviert eine „revolutionäre“ Fabel, woraufhin es tatsächlich zu Unruhen kommt. Zunächst berichtet nur ein privater Fernsehsender darüber: Revolte im Zentrum als auch in der Peripherie. Schon bald verlagert sich der Proteststurm vor das Ministerium für Kunst und Kultur. Darunter Studenten, der schwarze und rote Block sowie mehrere Jugendliche aus den Unterschichten. Es gibt Ausschreitungen. Dann spricht Franzer durch ein knarzendes Megaphon zu ihnen. Kann er die Unruhen stoppen? Oder führen die Proteste zum Erfolg? Ist eine Revolution möglich? Sind alle Segmente betroffen? Wie wird die Politik reagieren?
Autor Raab zeigt mit seinem Text eine Entwicklung in der Europäischen Union, die in naher Zukunft wahrscheinlich ist; er treibt die demokratiedefizitären Blüten, die heute erst recht durch die Schuldenkrise in Griechenland offen sind, weiter auf die Spitze. Fragt folgerichtig, wer die Union regiert. Und legt auch besonderes Augenmerk auf die neuen Technologien, die Daten kreieren, um die Bevölkerung ruhig zu stellen. Gemäß dem Thatcher’schen Motto: „There is no such thing as society“ fragmentiert der (Neo-)Liberalismus die Gesellschaft in weitere Schichten, die die Soziologen immer feiner clustern, um noch „beruhigendere“ Maßnahmen zu treffen. Die Devise: Je fragmentierter, desto weniger Solidarität zwischen den Schichten. Die andere Analyse: Unruhen sind notwendige „Störungen“ des Systems, um das System weiter zu zementieren.
Aus literarischer Sicht könnte man schnell urteilen, dass Raabs Plot stellenweise zu lang, zu fad, zu gewollt ist. – Allerdings ist die Story auf der Meta-Ebene konsequent klug. Ein „wissenschaftlicher“ Bericht, eine Narration, die auf vermeintlichen Fakten beruht, symbolisiert durch unvermittelte Statistiken einzelner Gesellschaftssegmente im Fließtext. Zudem ist es ja ein Bericht des Siegers und dessen Lesart; erinnert in dieser Hinsicht an George Orwells „Farm der Tiere“.
Aus künstlerischer Sicht wirft der Text zusätzlich die Frage auf, ob Computer in der Lage sind, gute Texte passgenau zu kreieren. Ähnlich wie heute der Onlinehändler Amazon, der im E-Book-Store Romane anbietet und gegenbenfalls die Romanenden an die Bedürfnisse des Lesers anpasst. Doch Raab geht weiter: Braucht man den Schriftsteller überhaupt noch, wenn Computer selbst kreativ werden? Eine Frage, die seit den 1960er Jahren regelmäßig kontrovers diskutiert wird, siehe etwa im Essay „Kybernetik und Gespenster“ von Italo Calvino.
Fazit: Schriftsteller Raab hat mit seinem Roman Die Netzwerk-Orange einen mehrdimensionalen Text erschaffen. Er überspitzt meisterlich die Entwicklungen in der EU und kombiniert sie mit den weitreichenden technologischen Möglichkeiten sowie dem speziellen Sedativum Fabeln – ähnlich der Pille Soma in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Nicht das Erzählerische ist hier wichtig, sondern die zu diskutierenden zukunftsrelevanten Themen. Ein Debatten-Buch par excellence!