Xaver versucht zunächst, Distanz zu den Ereignissen zu bewahren, wird aber schließlich gezwungen, seine Rolle als luzider Beobachter aufzugeben. Dabei holen ihn einmal mehr die Dämonen der Vergangenheit ein. Er erinnert sich, wie einst Konrad, der geliebte Großvater, von einer Wanderung nicht mehr zurückkehrte. Wie sich inmitten von Bangen und Hoffen allmählich die Gewissheit breitmachte, dass er nicht mehr zur Tür hereinkommen und seine Werkstatt im Keller des Elternhauses nicht mehr betreten würde. Damals stieg Xaver gemeinsam mit seiner Mutter Anna zu Mathoi auf, der in der Abgeschiedenheit der Berge lebte. Und tatsächlich gelang es dem Wunderheiler, dem „Anheber“, wie ihn die Einheimischen nennen, mit seinem Pendel jenen Ort zu bestimmen, an dem Konrad verunglückt war.
Als die Bergretter noch immer keine Spur haben, die zu dem Vermissten führen könnte, beschließt Xaver, abermals Mathois Dienste in Anspruch zu nehmen. Dabei kommt ihm Anna zu Hilfe, die mit dem Einsiedler in einem freundschaftlichen Verhältnis steht. Erneut erweist sich Mathoi als Mann der Stunde, der Näheres über den Verbleib des leichtsinnigen Schifahrers weiß. Nun bedarf es der beherzten Mitwirkung Konrads, um zu retten, was zu retten ist …
Das Lawinenunglück und das damit verbundene Geschehen gäben ausreichend Stoff für eine spannungsgeladene Geschichte ab, die sich mit publikumswirksamer Verve erzählen und verkaufen ließe. Doch dem Autor genügt dieser Ansatz nicht. Vielmehr will er hinter die glänzende Kulisse eines fiktiven österreichischen Wintersportortes blicken, um das abgründige Innenleben seiner Bewohner zu durchleuchten. In zahllosen Rückblenden, welche die Schilderung der dramatischen Vorgänge rund um das Lawinenunglück unterbrechen, ohne sie vollends in den Hintergrund zu drängen, wird so die Vergangenheit der Protagonisten aufgerollt.
Xavers vergebliches Werben um die Zuneigung seiner trinkenden Mutter, die brüchige Ehe der Eltern und die schmerzliche Trauer um den verunglückten Großvater, aber auch seine erfolgreiche Schwester Marlen, die als Tierärztin, Gattin und Mutter fungiert, werfen einen bedrückenden Schatten auf die Entwicklung des verhinderten Schauspielers. Der gelernte Koch, der eigentlich auf der Bühne stehen möchte und sich stattdessen als Liftwart verdingen muss, scheint sich selbst so entfremdet wie Anna, die es satthatte, immer nur Urlauber zu bedienen, und sich deshalb auf eine Alm zurückzog. Aber auch ihr bayerischer Gatte Vinz, der von den Einheimischen nie ganz akzeptiert worden ist und schließlich nach München geht, zeugt von der Schwierigkeit, als Nutznießer des Massentourismus und Sklave des schnellen Profits sich selbst treu zu bleiben. Insofern wäre Verschwinden in Lawinen als Allegorie auf das Verschwinden des Ichs hinter der von Effizienz und Hochleistung geprägten Fassade des Fremdenverkehrs zu lesen. Zugleich aber erzählt Prossers Roman einfühlsam vom je individuellen Kampf um Liebe und Anerkennung und von der lebenslangen Konfrontation mit Einsamkeit, Abschied und Tod. So gilt es einerseits, Verschüttete aus Lawinen zu bergen, und anderseits, sich selbst aus den Schneemassen der Selbstverleugnung zu befreien, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Mathoi, Anna und Konrad, aber auch Xaver scheinen dies instinktiv begriffen zu haben.
Vor diesem existenziellen Hintergrund entfaltet Prosser die Handlung seines winterlichen Antiheimatromans, der als beeindruckendes Beispiel österreichischer Gegenwartsliteratur auf uns zukommt und die Leserin/den Leser nicht mehr loslässt. Verschwinden in Lawinen ist also ein echter Fund – wie der Autor, dessen Namen man sich merken wird müssen.