#Prosa

Ein Jahr im Leben einer Infantin

Rosa Pock

// Rezension von Beatrice Simonsen

1995 veröffentlichte Rosa Pock ihre tagebuchartigen Notizen Ein Halbjahr im Leben einer Infantin: „[…] ich werde von Kindesbeinen an Infantin genannt, weil ich nicht zur Sprache finden wollte.“ (7) In 181 Tagen reflektierte die damals Sechsunddreißigjährige ihre Sprachfindung, wovon die originellen, manchmal rätselhaften oder auch widersprüchlichen Äußerungen zeugen: knappe Gedanken über Welt und Leben, kunstvoll verschlüsselte Fantasien und schonungslose Selbstbeobachtungen, schwankend zwischen hochfliegendem Optimismus und tiefstem Pessimismus, zwischen philosophischen und astrologischen Hilfestellungen zur Meisterung der Lebensfragen. In den folgenden Jahren arbeitete Rosa Pock weiter an der Frage, mit welcher Sprache wir uns in dieser Welt bewegen. Vom spielmodell m (1996) bis zum Prosaband wir sind idioten (2012) lässt sie die Beschäftigung mit sprachlicher Logik, Sprachspiel und Verknappung auf das Wesentliche nicht los.

Fast dreißig Jahre später schreibt die Autorin die Notizen der „Infantin“ nun fort. Ein Jahr im Leben einer Infantin schließt mit dem 182. Tag nahtlos an die ersten 181 Tage des 1995 veröffentlichten Halbjahrs an, das im aktuellen Buch ebenfalls enthalten ist.

„181. Tag
Während das Sprachlose sein stilles Schwert gegen mich richtet, erzählt man mir von einer Dame, die von sich sagt: die Aufgabe jeder Sprechmaschine ist es zu sprechen.
182. Tag
[…] Der Übergang vom Sprechen zur Schrift ist ein undurchschaubarer Prozess verfehlter Versuche, bewusst beeinflussen zu können. Diese mir in die Wiege gelegte Realitätsschwäche bahnt sich ihren Weg, indem ich nur wollen kann, wenn ich muss; dieses Können zeigt sich im Schmelztiegel geschriebener und ungeschriebener Sätze.“ (67)

Rosa Pock zeigt in der mühelosen Fortsetzung ihrer vielfältigen Überlegungen, dass sie das Infantinnentum noch nicht aufgegeben hat. Sie bleibt sich treu in ihrer Knappheit (ein Satz bis eine halbe Buchseite genügen), Direktheit, Hellsichtigkeit, Poesie und in ihrem Humor. Und doch ist eine Veränderung spürbar, fast könnte man von einem versöhnlicheren Ton sprechen. „Credo quod absurdum, so bin ich aufgewacht und habe nach meiner entschwundenen Ordnung gesucht. Nun hämmere ich mir Stunde um Stunde neue geometrische Muster in die Zeit, Chaos möge nicht Herr meiner Sinne werden. Der Wandel geschieht, indem ich das Quadrat verlasse und mit dem Kreis beginne.“ (72)

Vergangenheit ist die begehrliche Liebe zum „Narren“, die im Halbjahr so breiten Raum einnahm. Dreißig Jahre Ehe mit H.C. Artmann haben Spuren hinterlassen, die aber die literarische Eigenständigkeit der Autorin keineswegs schmälern. Rosa Pock geht konsequent damals wie heute ihren philosophischen Betrachtungen nach, die sie unnachahmlich in ihren Notizen festhält. Themen wie Einsamkeit, Tod, Alter greifen Raum, driften aber weder in Depression oder Selbstmitleid ab, verdrängen auch nicht ihre literarische Wachheit. Ein Haus am Land dient als „Kloster“, in dem die Natur dankbar und als stille Insel der Erholung erlebt wird. Der vor(!)letzte Eintrag ist ein Abschied mit Auftrag zum Weitermachen: „Das Schriftlose zieht mich wieder in seinen Bann, daher mein nächster Auftrag: die Aufgabe jeder Sprechmaschine ist es zu sprechen.“ (125) Geschrieben oder gesprochen bietet Rosa Pock den Aufmerksamen viel unkonventionelle Welthaltigkeit.

Rosa Pock Ein Jahr im Leben einer Infantin
Notizen.
Klagenfurt: Ritter, 2023.
128 S.; brosch.
ISBN 978-3-85415-652-9.

Rezension vom 01.01.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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