Paulina Neblo blickt auf ein bewegtes Leben zurück und jetzt, mit siebzig Jahren, beginnt sie Tagebuch zu schreiben. Sie wundert sich selbst ein wenig, dass man in diesem Alter noch ein Tagebuch beginnen kann, merkt aber rasch, dass es sie mehr ins Erzählen und Erinnern treibt als in die Beschreibung des Alltags. Das Tagebuch als Filter, sich reflexiv über die eigene Vergangenheit klar zu werden. Das ist fast schon ein klassisches Motiv. Ebenso klassisch wie die bewegte Vergangenheit, über die Rückschau gehalten wird. Bewegt ist bei Paulina wörtlich zu verstehen, sie war nämlich Tänzerin.
Erika Pluhar hat mit Spätes Tagebuch ein Buch über das Alter und das Altwerden geschrieben, eine leicht rührselige Altersschau aus der Sicht einer gutsituierten, kulturaffinen Rentnerin, der das Leben viel gab, aber auch viel genommen hat. Rührselig in den oft kitschigen Beschreibungen von Blättern im Wind und dem Wetter im Allgemeinen. Es ist oft sommerlich und schön und die Sonne wärmt undsoweiter und man kann beim Lesen die Wetterstimmungen immer auch als Abbild der Stimmungen von Paulina nehmen. In seichten Erotikfilmen der 80er-Jahre wurde der Höhepunkt des Geschlechtsakts, so es denn drehbuchmäßig einen geben sollte, bildlich oft mit schnaubenden Dampflokomotiven oder ausbrechenden Vulkanen illustriert. Ganz so projizierend sind die fallenden Blätter und die schräg einfallenden Sonnenstrahlen, die gerade noch wärmen (es ist Abend, natürlich) bei Pluhar nicht, man wird aber an die Dampflokomotiven erinnert. Vielleicht ist auch rührselig der falsche Ausdruck, einfühlsam und poetisch schreibt Pluhar über Paulina, die sich von der Welt zurückgezogen hat. Ein wenig sonderbar ist Paulina, die ehemalige Tänzerin und spätere Tanzcompany-Leiterin, so sonderbar wie zurückgezogen lebende Menschen, die allein leben, eben werden. Ein wenig hysterisch und extravagant, ein wenig traurig. Erika Pluhar ist selbst im Alter ihrer Protagonistin angekommen und weiß vielleicht sehr genau, wie es sich anfühlt, das Leben der Paulina zu führen. Auch Paulina ist der Mann gestorben, tragischerweise auch die Tochter, das Leben war, wie gesagt, auch hart zu ihr. Das war es aber dann auch schon mit den leicht autobiografischen Bezügen, mit denen Erika Pluhar nicht hausieren geht. Die Frage des autobiografischen Bezugs stellt sich eigentlich nicht.
Paulina erwartet sich nichts mehr vom Leben, vor allem keine Aufregung. Sie sickert täglich nach ein, zwei Gläsern Wein vor dem Fernseher tiefer in ihre Couch, dämmert durch die Stunden, ansonsten freut sie sich, wenn ihre Haushälterin Hortensia ihr etwas Besonders kocht, ein Gericht aus ihrer Azoreninselheimat etwa, so gehen die Tage dahin.
Als eine ehemalige Tänzerin aus Paulinas Company auftaucht, Florinda Bell, bekommt die Story ein wenig Schwung. Florinda führt eine zerrüttete Ehe mit Vincent und weint sich regelmäßig bei Paulina aus. Schwung kommt auch durch eine alte Flamme Paulinas, den Komponisten Maxime, der alte Begehrlichkeiten wiederaufleben lassen will. Zu guter Letzt kommt Florindas Mann Vincent direkt ins Spiel und holt mit seinem jugendlichem Charme und Liebeswerben Paulina endgültig aus dem Schmollwinkel der Alterseinsamkeit. Aufregend wird das Leben für einen Augenblick, zu aufregend, denn Paulina kippt zwischendurch auch um, wenn die Bäume, die an ihr Grundstück stoßen, gefällt werden. Es sind Klosterfrau Melissengeist-Aufregungen, um die es geht und die Anfälligkeit für Hysterie, die in der Figur der Paulina eingeschrieben ist, findet leicht Anlass zur Erregung. Aber es geht auch um den Aufbruch, noch einmal das Leben zu wagen, eine schöne Pointe, die Erika Pluhar da ihrem Roman mitgibt. Mit siebzig wartet man nicht auf den Tod, sondern lacht ihm aktiv und beschwingt ins Gesicht. Dass Erika Pluhar dabei manchmal gar große Worte benützt, scheint der leicht nervösen Wesensart Paulinas geschuldet, etwa als sie auf einer Düne eine Erleuchtung erfährt: „… in allen Schattierungen von Blau und Silber lag es vor uns. Das Meer. Der Atlantik. Die herrliche Wildheit des Ozeans. Allein dieser Augenblick machte es mir wert, auf diese Reise gegangen zu sein. Noch einmal in meinem Leben vor Augen zu haben, was Leben bedeutet. Leben fernab menschlichen Erlebens. Leben als universelle Gegebenheit, in der der Mensch sich auflöst und erlöst. Ja, ich empfand Erlösung.“ (S. 193-194)
Nein, diese Szene spielt nicht in Cornwall, aber die Augenblicke dieser Beschreibungen bekommen beim Lesen einen leichten Schleier übergelegt, einen Weichzeichner, der wieder an die Filme der 80er-Jahre denken lässt. Aber Erika Pluhar erzählt viel zu gekonnt und stilsicher, um ihre Geschichte um Paulina in bloße Sentimentalität kippen zu lassen.
Seltsam bleibt einzig Paulinas Umgang mit der eigenen Sexualität, die eine Frau von siebzig Jahren nicht mehr haben kann und soll, weil solche Sachen eklig sind. Da macht die Lektüre ein wenig ratlos. Die weitgereiste impulsive ehemalige Tänzerin, die sich die oben beschriebenen Sonnenstrahlen gerne auf die splitterfasernackte Haut scheinen lässt, hat etwas gegen Sex im Alter. Das verwundert, denn so ganz passt dieser Zugang zur Sexualität nicht in die heutige Zeit, in der die Generation 60 agil mit allen Sinnen genießt und tut. Da überrascht die Autorin Erika Pluhar, denn Paulina wünschte man sich schon ein wenig freizügiger, offener. Seltsamerweise ist diese Kluft in der Sexualität – alte Frau trifft jungen Mann, der Akt ist aber schwierig – ein Merkmal des Genres, das man so auch bei Barbara Bronnen liest, ganz im Gegenteil zu den virilitätsgeschwängerten Jägerromanen eines Philip Roth oder Martin Walser. Oder suchen gerade die Autorinnen der 68er-Generation im Alter das eher nonnenhaft Scheue, eben mit dem Wissen eines erfahrungsreichen Lebens? Der reaktionäre Konservatismus einer 50er-Jahre-Sexualmoral als Neue Sinnlichkeit einer postpostmodernen Welt? Nein. Erika Pluhars Spätes Tagebuch endet anders, Paulina reißt sich am Riemen und stürzt sich noch einmal in die Geschlechtlichkeit, wenngleich dezent, und in das Leben. Sie verlässt das Haus mit dem Gefühl, noch etwas machen zu können. Trotz oder gerade wegen ihres Alters. „Ich werde hinausgehen und mir Leben anschauen. Ich werde wieder Menschen tanzen sehen.“ (S. 219)