Der kleine François ist ein Findling. Er wurde von seiner Mutter in einem Einkaufswagen in einem Supermarkt in Bonneveine zurückgelassen und sein Name verweist auch auf seine Herkunft: „das Französlein“, bedeutet „François“ ja tatsächlich in der deutschen Übersetzung. Die Familie Toulet aus Point Rouge bei Marseille nimmt ihn bei sich auf, wobei „Familie“ vielleicht übertrieben ist, denn sie besteht nur aus einer Mutter und einem Vater. Dessen Erziehungsmethoden zielen vor allem auf die Abhärtung des kleinen François ab und Liebe kann er eigentlich nur für seine Mutter empfinden. Aber Madame Toulet ist nicht seine Mutter. „La mere und la mère, das Meer und die Mutter. Für mich war es dasselbe.“ Seine leibliche Mutter hatte die Fäden, an denen François hing, durchschnitten, indem sie ihn im Supermarkt zurückließ und nun sucht er nach einer neuen Aufhängung. Wie eine Marionette lässt er sich treiben, durch Marseille, nach New York und Montreal.
Mise en scène
Aber auch seine Adoptiv-Mutter benutzt ihn eigentlich nur, denn sie sieht ihn als Chance, „sich eine andere Welt zu denken“. Sein Adoptiv-Vater hingegen will ihn brechen und so fällt es François leicht, sich nach seinem Schulabschluss von seinen Eltern zu verabschieden und ein neues, eigenes Leben zu beginnen. Aber was für ein Leben kann man führen, wenn die eigenen Wurzeln in ein Centre Commercial in Bonneveine zurückführen? François hat ein loses Verhältnis mit einem anderen Findling, Lucy, die ihm schon einen Schritt voraus ist, denn sie hat keine Eltern mehr und lebt frei und ungebunden. Über einen anderen Bekannten, Le Boche („der Deutsche), bekommt François schließlich Arbeit in einem Hotel, das hauptsächlich zur Geldwäsche dient. Aber darin ist François nicht involviert, bis er eines Tages für seinen Chef nach New York fliegen muss, von wo es ihn weiter nach Montreal verschlägt, bis er es nach einigen Schwierigkeiten, die er dort zu bestehen hat, wieder zurück nach Marseille schafft. Der enfant trouvé (franz. für „Findling“) ist ein gefundenes Kind, das sich schließlich in der Fremde selbst findet und neu erfindet, um am Ende im Schoße seiner Mutter wieder aufzuwachen, aber nicht als „enfant terrible“ (dt.: schreckliches Kind), wie es sonst so schön heißt. Alles nur ein Tagtraum? Oder ist François seiner Welt tatsächlich entflohen?
Mise en abyme
„Das Jetzt dauert drei Sekunden“ heißt es an einer Stelle des Romans und ebenso wie François begibt sich der Leser auf eine Reise zum eigentlichen Ich und der wirklichen Identität. Der Autor, der zwischendurch immer wieder mit seinen Französisch-Kenntnissen das notwendige Lokalkolorit herbeizaubert, lässt die Antwort auf die obigen Fragen offen. Aber was bleibt wirklich von uns übrig, wenn wir den Ort unserer Sozialisation verlassen und ganz auf uns selbst reduziert versuchen, etwas aus unserem Leben zu machen? Der Schriftsteller und Musiker Hans Platzgumer, der nach eigenen Aussagen aus einem bürgerlichen Milieu stammt, hat sich selbst auf dieses Wagnis eingelassen, um als Musiker in Übersee zu reüssieren. In den Städten, die er in Drei Sekunden Jetzt beschreibt, hat er selbst gelebt und wohl auch so manche der Gefühle seines Protagonisten geteilt, nebenbei Englisch und offensichtlich auch Französisch gelernt. Wer das Netz seiner sozialen Kontakte zerreißt, fühlt sich gleichzeitig frei und verloren, darüber reflektiert Drei Sekunden Jetzt: „Die Wege der Freiheit beklemmten mich. Frei zu sein, bedeutete, das Gewicht der Welt zu schultern„.
Hans Platzgumer hat einen Roman geschrieben, der sich mit den existentiellen Fragen des Lebens beschäftigt: woher kommen wir? Wohin gehen wir?