Mit der zentralen Metapher hebt seine Erzählung an: „Wir trieben auf einem Floß durch die Nacht, und die schwarze See wogte und schäumte lautlos um uns.“ (S. 7) „Wir“, das bezeichnet die gesamte Familie, nicht nur Eltern oder Onkeln und Tanten, nein auch Verwandte vergangener Generationen. Sie alle sitzen auf dem Floß oder umkreisen es als Vögel oder Fische. „Wir waren Schatten, Totenvögel, Gespenster, nur daß kein Licht uns durchdrang, weil die Nacht auf der stürmischen See so dunkel war.“ (S. 9) Ist es 1913, 1930 oder 1976? Geht es nach Wien oder New York? Das Ziel der Reise ist ungewiss, Zeit und Ort sind aufgehoben. Doch die Geschichte ist anwesend, sie zieht mit Gewalt das Floß in den Abgrund. Die Geschichte, will heißen: die Geschichten der Verwandten. Onkel Ludwig mit dem stachligen Schnurrbart, die Großmutter, die man sich nicht als junges Mädchen vorstellen kann, und schließlich der Großvater: Der „war aus Ungarn gekommen und liebte den Rotwein und hatte Vokale in seinem Deutsch, die noch nach der Puszta klangen.“ (S. 20) Manche aus der Familie tragen einen Heiligenschein, das Zeichen der Blutopfer. Sie sind in den Vernichtungslagern umgekommen. Mit dem unfreiwilligen Zeichen ihrer Unschuld erinnern sie die überlebenden Verwandten an deren „Schuld“, die Flucht geschafft zu haben.
Historische Einschnitte markieren den Schicksalslauf der Familie: 1914 Kriegsbeginn, 1916 Tod des geliebten Kaisers, 1918 Ausrufung der ungeliebten Republik, 1927 Justizpalastbrand, 1934 Bürgerkrieg, 1938 Anschluss. Gegen Ende der Erzählung dann die Gewissheit: „Wir hatten den kommenden Sturm schon vom ersten geborgten Bürgerrecht an in den Gliedern.“ (S. 69) Dann naht der Morgen dieser Traumfahrt: Die Verwandten verschwinden einer nach dem anderen. „Selbst die entsetzlichen Heiligenscheine verlieren ihr Feuer. Alles wird weiß, und das Meer wird ganz still und glatt.“ (S. 70) Neben dem Träumer bleibt nur einer übrig: der „Zukünftige Mensch“. Er ist der moderne, vernünftige Technokrat, der mit der versunkenen Welt der Familie nichts mehr zu tun hat. „Wir müssen an die Zukunft der Menschheit denken“, fordert er. (S. 73) Der Träumer will sich damit nicht abfinden: „Keine Vernunft ohne Liebe, wollte ich sagen, und keine Zukunft ohne Vergangenheitsträume, aber ein Frühwind erhob sich und verschlang mir die Stimme.“ (S. 74)
Adolf Placzek schafft zweierlei: Zum einen sich mit erhellenden Bildern einer Katastrophe zu nähern, deren Ausmaß nicht erfasst werden kann. Zum anderen in klarer, einfacher Sprache das Wunder einer Erzählung entstehen zu lassen, wie man sie nur ganz selten findet. Über das Verhältnis zum Judentum der Satz: „Sie waren auch auf ihr Judentum bedacht, wie sie alle das nannten, aber sie klangen bedroht, wenn es erwähnt wurde.“ (S. 24) Jedes einzelne Wort wiegt hier schwer, ohne erzählerische Schwere zu erzeugen. Der aufkommende Antisemitismus wird so beschrieben: „Verrecke, schrie es, Juda verrecke. Das war eine unfeine Ausdrucksweise.“ (S. 42) Und nach dem Bürgerkrieg 1934 die Bilanz: „Dann war es vorüber, das elektrische Licht ging an, die Sozialdemokratie war vernichtet, zumindest in den Wohnzimmern, denn man brauchte nur in die Küchen zu gehen, um das Gegenteil zu erfahren.“ (S. 51) Auch Literaturkundige werden hier fündig. Arthur Schnitzler und Karl Kraus; das Gymnasium in der Wasagasse, welches von Erich Fried her bekannt ist; die berühmte „Zwischenzeit“ Österreichs, der Albert Drach ein autobiografisches Protokoll gewidmet hat: Literarische Spuren in einer Erzählung, deren dichte Atmosphäre hier bestenfalls angedeutet werden kann.
Man kann diesem wunderbaren Buch nur eines wünschen: viele zukünftige Leser.