#Prosa

Jenseits von Anatolien

Dine Petrik

// Rezension von Barbara Angelberger

Eine Reise ins Oströmische Reich.

Dine Petrik macht sich – laut Untertitel – auf ins Oströmische Reich, in ein untergegangenes Imperium also. Der Hinweis auf Byzanz macht gleich eingangs eines deutlich: die Autorin ist nicht gewillt, sich zeitlichen oder räumlichen Beschränkungen zu beugen.

Dass etwa die Türken ihre Vorgänger, die Seldschuken, als „Kulturvolk“ bezeichnen, gemahnt sie an die (im weitesten Sinne!) österr. Vergangenheit. „Auch wir sehen uns als Kulturvolk, wir sahen uns selbstverständlich schon damals, eingegliedert ins Weströmische Reich – wie auch als Mitglieder einer mächtigen Monarchie und als Mitinitiatoren grausamer Kriege -, als solches an. […] Gestern noch haben unsere Väter unter dem Etikett ‚Herrschaftsrasse‘ zu vernichten gewusst wie kein anderes Volk, eines das sich per Streckarm grüßte und ‚Heil Hitler‘ bellte …“

Petrik zieht Analogien, findet Bekanntes im (scheinbar) Fremden, verwebt unmittelbare Reiseeindrücke mit kulturgeschichtlichen Überlieferungen. Sie folgt alten Handelswegen von der Römerstraße zur Seidenstraße, von Armenien nach Ägypten, sie befindet sich in der heutigen Türkei ebenso wie im burgenländischen Dorf ihrer Kindheit.
Bei ihrem Gang durch die Jahrhunderte fördert sie allerlei Interessantes und Wissenswertes zutage, gerne folgt man ihren Ausführungen, wenn sie sich dafür Zeit lässt. Anstrengend aber wird es, wenn sie LeserInnen mit „Reiseführer-Wissen“ in komprimierter Form (Namen, Namen, Jahreszahlen) konfrontiert.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Petrik den Schattenseiten des Kemalismus und der Situation der Kurden im türkischen Nationalstaat: 300 000 Menschen haben in den letzten 15 Jahren in Nordwestkurdistan ihr Leben verloren, 3000 Kurden sind verschwunden. Petrik führt Einzelschicksale vor, die für viele stehen. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass auch EU-Staaten direkt und indirekt in das Problem involviert sind: Eser Altinok etwa wurde in Deutschland mit der Abschiebung in die Türkei gedroht, falls er Aussagen gegen die PKK verweigere. Er verbrannte sich 1998 in Bautzen.

Petrik macht aus ihrer Ablehnung des türkischen Nationalismus keinen Hehl. Nüchterne Berichterstattung ist ihre Sache nicht. Sie ergreift Partei – und wird dadurch eben auch parteiisch. Vom nicht unumstrittenen Öcalan hätte man möglicherweise auch ein negativeres Bild zeichnen können.
Klar übers Ziel hinaus schießt die Autorin, wenn sie kurdisches Leid im „wir“ abhandelt. Galt im oben angeführten Zitat das Wir noch „uns ÖsterreicherInnen“ sind im folgenden Petrik und die Kurdinnen gemeint: „Wir draußen stehenden Kurdinnen applaudieren ihnen Mut zu, heulen Parolen: […] Das Leid der Mütter kann nicht mehr verkraftet werden!“ Geschildert wird eine durch brutalen Polizeieinsatz aufgelöste friedliche Kundgebung der Samstagsmütter. Jeden Samstag treffen sie sich auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul, um gegen das Verschwinden ihrer Angehörigen nach Verhaftungen zu protestieren.

Petrik legt einen Reisebericht vor, der mehr ist als Fakten-Bericht: ein Text, der sich um Poetik bemüht, Lakonismus nicht scheut und auch sachlichem Erzählen breiten Raum gibt.

Dine Petrik Jenseits von Anatolien
Reisebericht.
Wien: Promedia, 2002.
192 S.; brosch.
ISBN 3-85371-189-8.

Rezension vom 24.09.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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