#Prosa

Bei einem Häufchen Laub

Jonathan Perry

// Rezension von Walter Wagner

Neben den epischen Romanwerken eines Handke oder Setz setzen die so genannten gnomischen, also kleinen Formen einen ästhetischen Kontrapunkt, der im großen Getriebe der Literatur seinen festen Platz hat. Zwischen Lyrik und Prosa angesiedelt, erzählen diese Textminiaturen keine Geschichten, sondern begnügen sich damit, auf sie hinzuweisen. Gleichsam als Prosa-Haikus verdichten sie in wenigen Worten die atmosphärische Stimmung von alltäglichen Begebnissen und bringen diese kaum wahrgenommenen Beiläufigkeiten poetisch auf den Punkt. Dazu braucht es allerdings die beharrlich kontemplative Haltung des Dichters, dem es obliegt und meist auch gelingt, sie sprachlich einzufangen und literarisch zum Leuchten zu bringen.

Jonathan Perry widmet sich dieser Herausforderung, die weder Publikumswirksamkeit noch Ruhm verspricht, in seinem neuen Band Bei einem Häufchen Laub mit großer Beflissenheit. Konsequent und unverdrossen jagt er, höchstens mit Papier und Bleistift ausgerüstet, den unscheinbaren Augenblicken nach, wo das Gewöhnliche, vom dichterischen Auge in den Blick genommen, ins Poetische umschlägt und plötzlich besonders und berichtenswert erscheint. Die jüngste Ausbeute seiner Beobachtungen führt uns in den engeren Lebensbereich des Autors, der an Artefakten und Naturdingen gleichermaßen Gefallen findet und – Stifters „sanftem Gesetz“ folgend – seine Liebe zum Detail behutsam entfaltet. Gleichviel, ob es sich um einen Farbstiftkasten, einen Aschenbecher, eine Tabakspfeife oder simple Wattestäbchen handelt, nichts ist Perry zu gering, um nicht Gegenstand seiner poetischen Betrachtungen zu werden. Dabei erfindet er originelle Verwendungsmöglichkeiten und entdeckt im Trivialen das Kunstwerk als Objet trouvé. Eine derartige Metamorphose erfahren etwa Zigaretten, die, „mit den Filtern unten“ aneinandergereiht, auf einmal als Rufzeichen fungieren, oder eine leere Pfeife, die sich auch zum Seufzen eignet. Desgleichen schlägt den stets wachen Betrachter eine winzige, auf dem unteren Blattrand eines Buches zerdrückte Obstmücke in den Bann und lässt ihn über den Zeitpunkt dieses ‚Todesfalles‘ spekulieren, ohne ernsthaft eine Antwort auf die solcherart aufgeworfene Frage anzustreben.

Fündig wird der Autor auf seinen vor allem im Kopf stattfindenden Streifzügen zudem im Garten, wo Wind und Sonne für Bewegung und Wechsel sorgen. So entgeht „der Schatten eines Blattes“, der über einen Gartensessel wandert, ebenso wenig der Aufmerksamkeit des Dichters wie Vogelgezwitscher, ein Ausflug roter Ameisen und das eifrige Hämmern des Spechts. Selbst den rotglühenden Punkt einer entzündeten Zigarette weiß Perry als künstlerische Manifestation jenseits aktueller Debatten um das Rauchen zu würdigen.

Momentaufnahmen des Sonderbaren gelingen auch dann, wenn Menschen aufeinandertreffen, sei es im Café, im Supermarkt oder in einer Konditorei, wobei der Ich-Erzähler stets mit überraschenden Wendungen aufwartet. Wenn er beispielsweise in einem Gastgarten eine Gruppe von Jugendlichen ersucht, den Lärmpegel zu drosseln, endet die Mikroerzählung mit selbstironischer Note: „Ich entschuldige mich für die Störung und gehe nach Hause.“

Der Geist der Dichtung weht, wo er will, könnte man mit Blick auf Perrys poetische Prosa sagen, welche die Rehabilitierung des Nebensächlichen beabsichtigt und ein geradezu provokantes Lob der Vita contemplativa inmitten allgegenwärtiger Geschäftigkeit anstimmt. Doch das in schlichter Sprache beschworene Idyll wird von der perfiden „Motorsäge des Nachbarn“ je und je aus der Beschaulichkeit gerissen und zeigt einmal mehr, wie fragil sich diese Zäsuren des kleinen Glücks im prosaischen Lauf der Dinge gestalten. Im Nu erlischt der Zauber, ist der Hauch von jugendlicher Frische verweht, und man fragt sich, zu welchen Einsichten uns die Lektüre dieses Büchleins verhilft, wenn sich der Dichter wohlgefällig nickend von einer neugierigen Waldameise und zuletzt seiner Leserschaft verabschiedet.

Ohne Zweifel tritt der Glanz der Schönheit, wenn wir nur die richtige Perspektive einnehmen, aus den banalsten Situationen hervor und vermag das sensible, ästhetisch gestimmte Gemüt freudig zu erregen. Gleichwohl lässt sich der Verdacht einer sentimentalen Nabelschau nicht ganz von der Hand weisen, bleibt doch die Referenz auf eine höhere, ja metaphysische Perspektive in Perrys lakonischer Phänomenologie weitgehend aus. Die schmale Grenze zwischen Poesie und Banalität entlangwandernd, sieht sich der Dichter gern beim Schreiben und Denken zu und bleibt beim Studium des Kleinen bisweilen auch darin gefangen: „Im Garten verstreute Blätter, die ich aus meinem Notizbuch gerissen habe, vom Wind verweht. Erst dachte ich, ich müsse sie aufsammeln gehen. Aber wozu? Ich schreibe ja doch bloß meine Gedanken auf, und wie die Wolken über mir treibt es sie bald dorthin, bald dahin …“ Nun, wer hat Derartiges nicht schon gedacht … Von Dichtern aber dürfen wir Schärferes und Tieferes erwarten und verlangen, wenn sie, um Kafka zu bemühen, „das gefrorene Meer in uns“ aufbrechen sollen. Und so bleibt zu hoffen, dass uns Perry, der die höhere Schule des Sehens absolviert hat, nach diesem verheißungsvollen Bändchen demnächst mit noch Größerem aus der Reserve locken wird.

Jonathan Perry Bei einem Häufchen Laub
Prosaminiaturen.
Klagenfurt: Sisyphus, 2019.
72 S.; brosch.
ISBN 978-3-903125-40-7.

Rezension vom 18.11.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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