#Prosa

Wir gingen weil alle gingen

Thomas Perle

// Rezension von Erkan Osmanovic

im scheinwerferlicht entdeckte ich braunes fell. ein bär. ein großer brauner bär mitten auf der straße! ein müder bär, der jetzt gelassen auf die dacia zukam. selten wurde bei uns gebetet. jetzt beteten wir zu gott, zu jesus, zum heiligen antonius und allen heiligen, die uns noch einfielen. wir verkrochen uns tief in unsere sitze, als sich das auto senkte. niemand konnte uns helfen. unsere nachbarn hatten kennzeichen mit ungeraden zahlen und durften erst einen tag später in den urlaub fahren. kein anderes auto weit und breit um diese zeit. der bär hockte auf unserer motorhaube. wir warteten.

den menschen die farben zurückzugeben

Wir sind im Rumänien der 1980er Jahre. Nicolae und Elena Ceausescu, der conducator und die große Wissenschaftlerin, regieren das autoritär-kommunistische Land. Täglich erfahren die Menschen aus dem televizor vom Wohlstand und der Fortschrittlichkeit des Landes, um dann bei Kerzenlicht darüber nachzudenken: „denn schließlich baute unser sozialismus auf dem fleißigen elan eines arbeitenden volkes auf. und auf der sparsamkeit unseres geliebten conducators. die dunkelheit kurbelte durch kerzenkäufe die wirtschaft an, der romantische kerzenschein und die kälte die geburtenrate. so der plan unseres gescheiten conducators.
Doch die Familie der 11-Jährigen Erzählerin aus dem Text wir gingen, weil alle gingen hat genug von diesem Plan. Nachdem sie die Bärenattacke ohne Schaden gemeistert haben, verbringen die Familienmitglieder ihren Sommer in der Kleinen Walachei, der Heimat ihres otas, des Großvaters. Dort scheint ein anderes Rumänien zu existieren, eines mit Speisen und Lebensfreude im Übermaß:

die frauen hatten schöne bunte kopftücher auf. sie lächelten uns zu. goldzähne funkelten in ihren mündern. verstaubt stand die dacia schließlich vor dem großen tor bei den väterlichen verwandten mütterlicherseits. im hof stand ein langer tisch voller rumänischer delikatessen. große schüsseln mit tomatensalat aus riesigen fleischtomaten und zwiebeln, m?m?lig? cu brânz?, selbstgebackene weißbrotlaibe zwischen platten voller hackfleischwürsten, die wir mici nannten. auf dem grill brutzelten koteletts und melanzani, die mit knoblauch zu vinete als paste aufs brot geschmiert wurden. auf der runden grillplatte wurden kartoffeln im fett innen weich und außen knusprig. literweise standen bier und selbstgebrannter schnaps in der mitte der tafel, daneben der wein, der am nächsten tag kopfschmerzen machte.

Einige Zeit später ist es soweit. Die Mutter fasst im Garten unter einem Nussbaum einen Entschluss: Weg aus Rumänien. Kaum gesagt, schon getan. Im roten Dacia fährt die Familie Richtung Westen. Ihre Reise führt sie über Ungarn und die Tschechoslowakei schließlich in die Wohnung einer russischen Familie, die sie sich in Zukunft miteinander teilen. In Deutschland.
Kaum angekommen, geht alles ganz schnell: der erste Schultag. Die Kinder werden zuerst ausgelacht, dann angenommen und schließlich bewundert:

ich kam also eine halbe stunde zu spät. öffnete meine klassentür und blickte in alle mädchengesichter. klar war ich die älteste. vor lauter aufregung sagte ich: ich habe die u-bahn verloren! die ganzen puten lachten und ich war auf einen schlag das dumme osteuropäische mädchen, das u-bahnen verlor. natürlich blieb ich es nicht. als ich erzählte, dass ich mit meiner mutter und meinem bruder deutsch, mit meinem vater ungarisch spreche und meine eltern miteinander rumänisch, waren alle beeindruckt und fanden es cool, plötzlich ein sprachenbegabtes flüchtlingskind aus rumänien zur freundin zu haben. auch wenn ich nicht wirklich ein flüchtlingskind war. aber ich war eben cool.

Der 1987 in Rumänien geborene Thomas Perle schreibt in seinem Debütroman von der Flucht in den Westen, von Heimweh und vom Abschied. Dabei blickt er nicht nur auf das Schicksal einer ganzen Generation oder eines ganzen Landes, sondern auch auf die Tragödien seiner BewohnerInnen.
So wird in
holz die Liebesgeschichte von Karl und Margarethe erzählt. Getrennt durch die Wirren des Ersten Weltkrieges, finden sie erneut zu einander in ihrer früheren Heimat, die nun ein neues Land ist:

als dann die verträge ausgehandelt zwischen den neuen staaten, nationen wie man jetzt sagte, war er rumäne, weil das tal, in dem er geboren, nun in rumänien lag mit neuen grenzen. dorthin fuhr er zurück, jahre später, zu seiner liebsten und hoffte, dass kein anderer mann sie ihm genommen, seine margarethe.

Kinder kommen, Kinder gehen – drei Burschen sterben, kaum dass sie geboren wurden. Vier Töchter bleiben ihnen. Vier Mal Hoffnung in einem Karpatendorf, aber dann kommt wieder der Krieg. Nun die Russen. Margarethe und Karl fliehen. Alles Deutsche ist unerwünscht: „nur noch ungarn oder ruthenen oder walachen zu finden im dorf. alles deutsche fort oder stumm und taub.“Dann kommt wieder Lärm, Menschen, Leben – zurück in das Land. Ob Ungar, Deutscher, Ruthene oder Walache? Das interessierte niemanden mehr. Auch die Töchter nicht:

doch eine neue zeit war da. alle waren jetzt genossinnen und genossen. und anna feierte hochzeit im haus. fand sich als erste einen walachen, einen gendarmen. die zweite, bertha einen deutschen, tatsächlich, der aus sibirien zurückgekehrt. dann theres und erika. sie alle gebaren die nächste generation. mehr buben nach dem krieg. ein einziges mädchen, auf das die großeltern zufrieden und glücklich schauten. karl und margarethe waren jetzt alt. hießen jetzt károl bácsi und margit néni.

Nach all den gemeinsamen Sorgen kümmert die beiden nichts mehr außer der letzten Reise. Doch die wird zur größten Herausforderung für die beiden. Und nicht nur von dieser schreibt Perle, sondern auch über unglücklich Liebende, Betrogene und Vergessene.
Die Erzählungen wirken umso stärker, als Perle auf eine überladene Sprache verzichtet und geradezu lakonisch von den bewegenden Schicksalen berichtet. Dieser Umgang mit Sprache verleiht seinem Text etwas dokumentarisches, was seine Figuren und deren Geschichten noch lebendiger erscheinen lässt.
wir gingen, weil alle gingen erzählt vom Aufbruch ins Ungewisse, in die Fremde, in eine andere Welt. Die Figuren und Geschichten ergeben ein farbenprächtiges Mosaik, das Thomas Perle durch seine schnörkellose Sprache verbindet und uns damit eine großartige Lektüre ermöglicht.

Thomas Perle Wir gingen weil alle gingen
Prosa.
Wien: Edition Exil, 2018.
136 S.; brosch.
ISBN 9783901899690.

Rezension vom 12.08.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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