#Roman

Der gefälschte Himmel

Richard Obermayr

// Rezension von Thomas Eder

Richard Obermayrs Roman Der gefälschte Himmel entwirft erinnernd einen Welt-Alltag, in dem es um Erlösung und Erschaffung, um ein Aufgehen in der Schöpfung und um erinnernde Wiederholung des Geschaffenen geht. Ein Erzähler-Ich spürt der eigenen Familiengeschichte nach, diese Suche gerät ihm zu einer Recherche der Bedingungen und Grenzen der eigenen und fremden Existenz wie auch jeglicher Möglichkeit von Existenz. Die Grenzen zwischen Vergangenem und Künftigem, zwischen Erinnertem, Erlebtem, Visionärem und Utopischem weichen sich auf, die einzelnen Glieder dieser Reihe beeinflussen und bedingen einander. Zeitlichkeit und Kausalität von Davor und Danach geraten ins Schwanken, und es wird nahegelegt, daß das Erinnerte erst mit dem Akt des Erinnerns geschaffen wird.

„Alles wollte noch geschehen. Die Bilder waren noch nicht gerahmt und koloriert und die Legenden dazu noch nicht geschrieben. […] Bin ich es noch, der von dort kommt, wohin ich aufbrach? Welche Kleidung trug ich, als ich dorthin ging, woran ich mich noch erkennen könnte?“ (S. 12f.) Überhangen ist dieser Versuch einer weltschaffenden Erinnerung von der beständigen Perspektive des Scheiterns, vor allem angesichts der eigenen Ansprüche sub specie aeternitatis. Das Bewußtsein von der Unausweichlichkeit des Scheiterns entfaltet sich anhand der sprachlichen Attitüden, die dem Erzähler-Ich und seiner präsumptiven Banalität die Gloriolen mittels eines hohen, ja höchsten Tones verleihen sollen. Indem Obermayr den gleichen hohen Ton für sämtliche Redegegenstände anschlägt, indem das sprachliche Kleid ungeachtet dessen, welches Korpus es birgt und erschafft, immer mit intensiver Bewußtheit der eigenen sprachlichen Verfaßtheit gegenüber gewirkt ist, führt Der gefälschte Himmel vor, wie sich die Ebenen des Hohen und Banalen, des Artifiziellen und Volkstümlichen besonders deutlich und wirkungsmächtig konturieren lassen: als Erhabenes und Karnevaleskes. „Das Erhabene war eine Maske, wie sie der Karneval prägte.“ (S. 100) Das sich erinnernde Ich wird auf die Möglichkeit der eigenen Banalität gestoßen, trotz aller Anstrengung, eine solche im sprachlichen Ton des Memorierens an hohe Gegenstände und Erfahrungen anzupassen, sie in solche zu transformieren.

Das Ineinsfallen hoher und banaler Denotate in einem Wort ist bei Obermayr poetisches Kalkül, das Distanziertheit und Hingabe in einem produziert. Deshalb kann er beinahe alles miteinander in Beziehung setzen, ohne – wie ihm dies gelegentlich vorgeworfen wurde – in den Ruch einer Stilblüte zu geraten: „Keine Wolke konnte den Harn noch an sich halten und warm kam es über meinen Himmelskörper.“ (S. 73)

Obermayrs Bildmischungen (nicht: Bildsprünge) sind ins Netz eines übergeordneten Bild-Gedächtnisses eingeknüpft und – darin aufgefangen – für die Konzeption eines umfassenden Welterinnerns und -erzeugens produktiv gemacht. Gehäuft läßt Obermayr das Rollen- und Hülsen-Ich seines Romans im Bereich einer ausufernden Flora und Fauna aufgehen, deren Kohärenz von einem Fortschreiten von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit bestimmt ist.

Den hybriden Realitätsstatus jeder literarischen Welt bündelt Obermayr im zentralen Motiv seines Romans, der einst den Arbeitstitel „Die Erweiterungen des Gedächtnisses“ trug, in einem Hotel, möglicherweise an der Küste der Normandie, möglicherweise mit verfallenden Zimmerfluchten. Ein Haus galt der antiken Rhetorik als Hilfsmittel beim Memorieren einer Rede (z. B. bei Quintilian), entlang eines solchen entwickelt das Erzähler-Ich die Stationen seines Erinnerungs-, Weltschaffungs-, aber auch Vernichtungsprojekts: „Die Erinnerungen, die an seine [des Hauses, T. E.] Stelle getreten waren, hatten es nicht nur abgelöst, sondern gelöscht, als hätte es dieses Haus niemals gegeben.“ (S. 22) „Ich allein bin es, der dieses Hotel behauptet. Es stürzte mit einem Niesen nur zusammen.“
(S. 55)

Der Topos des Scheiterns, des Untergangs und der Vernichtung durchzieht das gesamte Werk, er bildet – gebündelt im Zwischenwesen eines fallenden oder bereits gestürzten Engels – auch dessen Klammer, seinen Anfang und sein Ende. Im ersten Satz des Romans „lag ein Engel tot in steinernen Gliedern an der langen Bucht“ (S. 7). Am Ende des Romans durchlebt der Engel, dem sich das Erzähler-Ich annähert, seinen Tod noch einmal. „Ein Leben lang wiederhole ich diesen Tag, bis er zur bloßen Legende reift. Bis ich ein anderer bin, der nur noch ahnt, daß an dieser Stelle stand noch vor Jahren ein von einem flachen Bogen übergangenes Kreuz aus dunklem Basalt und ein weißer, steinerner Engel. Ich werde ihm nahe sein, dort, in der unendlich kleinen Krümmung des Flügels, wo die Bogenlinie eines Fluges und die Gerade eines Sturzes zusammenfallen. Ich werde dieser Ort sein, der steingebliebene Engel und die Rede, die allem entsprach. […] Ich bin bereits geschrieben. Trocken bin ich zu Ende. Mit fallenden Zeilen fließt seine Hand über mich zum Ende hin und schließt.“ (S. 365)

Solche Stellen, die den Augenblick des Sturzes und den Verlauf eines Auffluges in den Blick rücken, finden sich mehrfach in dem Buch. Man könnte Adornos berühmtes Wort von der „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ (in der „Negativen Dialektik“) abgewandelt auf Richard Obermayrs Der gefälschte Himmel anwenden. Auch in ihm geht es „dort, in der unendlich kleinen Krümmung des Flügels, wo die Bogenlinie eines Fluges und die Gerade eines Sturzes zusammenfallen“, darum, etwas im Augenblick seines Sturzes erfahrbar zu machen: den letzten, stürzenden Zusammenhalt einer rhetorischen Tradition und Kultur mit einem poetischen Sprachkunstwerk – als Abgesang auf eine mit dem „gefälschten Himmel“ wieder erstehende Rhetorik der Dichtung.

Richard Obermayr Der gefälschte Himmel
Roman.
Salzburg, Wien: Residenz, 1998.
365 S.; geb.
ISBN 3-7017-1122-4.

Rezension vom 02.12.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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