#Roman

Prantner

Josef Oberhollenzer

// Rezension von Helmuth Schönauer

oder Die Erfindung der Vergangenheit.

Die meisten Bücher rennen einem nach, überfallen einen und man kommt mit der Abwehr der Massenware des Literaturbetriebes nicht nach. In seltenen Fällen lassen sich Bücher ausmachen, denen man als Leser selbst nachgehen muss, sie sind verschlüsselt, geheimnisvoll und einmalig. Sie lassen sich erst lesen, wenn man zuvor Freundschaft mit dem Autor und seinem Konzept geschlossen hat.

Josef Oberhollenzer pflegt schon seit Jahrzehnten einen solitären Erzählstil. Im Layout ist sein Roman getragen von einer oben angeordneten Hauptebene, der im Stile von wissenschaftlichen Arbeiten eine Fußnotenleiste unterlegt ist. In der Eisenbahnersprache könnte man vom „Regelgleis und Gegengleis“ sprechen, im Archivwesen von Regal- und Nutzliteratur. Für Archivare gilt ja der schöne Satz: „Die Wahrheit steht verschnürt im Regal, wenn man sie auspackt, zerfällt sie leicht.“

Stark verkürzt könnte man Prantner als Biographie lesen, die aus mannigfaltigen Quellen zusammengesetzt ist. „Die Erinnerung ist das Leben selbst“, lautet der zentrale Satz, um den diese Biographie dramaturgisch aufgebaut ist. Diese Erkenntnis ist als Intermezzo in die beiden Blöcke „wenn die leute nur daran geglaubt hätten“ und „versuch der verlassenheit zu entfliehen“ geschoben. Prantner versucht eine Antwort zu geben auf die Fragen: Was macht ein Individuum aus? Was sagen die Leute dazu? Wie kommt man aus der eigenen Haut heraus?

Die Figur des „Kaspar Brandner“ ist einerseits ein literarisches Zitat. In der Literatur der Alpen geistert nämlich seit Jahrhunderten unter diesem Namen ein aufmüpfiger Widerstandsgeist herum, der mit dem Tod Karten spielt und diesen scheinbar besiegt. Andererseits ist der „Kaspar Prantner“ eine Komposition über einen einzigartigen Menschen, der als Knecht auf einem Südtiroler Hof wundersame Dinge erfindet und dabei auf schräge Ideen kommt. Die ideale Erfindung ist eine Erfindung um ihrer selbst willen. Während andere etwa eine Schreibmaschine erfinden, die später einmal einen Sinn ergeben kann, erfindet Prantner eine Blütenstaubsammelmaschine, die Poesie und Pollen in einem Arbeitsgang aufspürt und einsammelt.

Leben als Individuum – Gesellschaftskritik – von der Realität entkoppelte Universalzeit: In diesem Dreieck fallen jede Menge Petitessen an, die entweder als kleiner Aufsatz ans Licht der Erinnerung strömen oder als sprachmächtiger Essay daherkommen. „Was leistet die welsche Schule?“ (81) – In diesem Text sind die pädagogischen Grundfragen gestellt und in Frage gestellt. Was an der Schule einer Gesellschaft geschieht, geschieht auch in ihren Parlamenten. Eine Kommission untersucht in diesem Bildungsessay die Auswirkung der beiden Sprachen italienisch und deutsch auf sich selbst. Das Ergebnis fällt trocken aus: „Das Lesen war überall ungeheuer eintönig, ohne Verständnis.“ (82)

Neben den Geschichten, die eine Art Kristallisation eines Recherchevorgangs ergeben, steht das große Thema der „Quellenverschränkung“ unter ständiger Beobachtung des Erzählstroms. Beispiel: Jemand entwendet kurz einen Artikel, den jemand anderer als Reliquie in einer Handtasche mit sich trägt. Er liest den Text, aber es steht nichts besonderes drin, er googelt im Netz, stößt auf keinen Sinn, und steckt den Artikel aus dem „Bozner Tagblatt“ wieder in die Tasche zurück. Und siehe, jetzt hat der Text wieder einen Sinn, weil er abermals als Reliquie im Tresor der Erinnerung abgelegt ist. (28) Genaueres „Hineinhören“ in den Text lohnt sich bei Josef Oberhollenzer allemal. So verwendet er für das Erzählen von Innerem den Ausdruck „etwas aufblättern“. (45) Im Volksmund wird diese Fügung verwendet als „aufplatteln“, das heißt, jemanden fertig machen.
Manche Begriffe werden zu Beschwörungsformeln, die mitten in der Unauffälligkeit einer Alltagssituation angewendet werden müssen, um das Geschehen weiterzubringen. „undsoweiter“ (157) ist so eine Fügung, mit der sich die Helden aus der Patsche helfen, wenn sie nicht mehr weiterwissen.
Irgendwann wird man nicht umhinkommen, das wundersame Personenregister zu lesen, das dem Buch vorangestellt ist. Da sind alle vorgestellt, die im Text vorkommen, in früheren Romanen erfunden worden sind, oder sich aus der Zeitgeschichte Südtirols direkt hineingebeamt haben in den Erzählkosmos von Prantner.

Das Registerlesen ist die schnellste Methode, um sich eine Draufsicht auf den Roman zu verschaffen. In minimalen Einträgen treten dabei die Schicksale zu Tage, die jenem des Prantner gleichen. Jemandem gelingt es, offen aufgebahrt zu werden, das ist für ihn von gleichem Wert wie die Blütenmaschine für den Haupthelden.
Josef Oberhollenzers Roman geht einem lange nach. Wie erzählen die anderen von einem? Welchen Quellen ist man selbst aufgesessen? Wie kann man der flüchtigen Art, mit sich selbst umzugehen, entkommen, ohne dass es auffällt?

Josef Oberhollenzer Prantner
Roman.
Wien, Bozen: Folio, 2023.
232 S.; geb.
ISBN 978-3-85256-874-4.

Rezension vom 12.04.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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