Doch auf dem Boden hat sie zusehends den Halt verloren. Sie steckt zwischen zwei Männern und zwei recht unterschiedlichen Liebesbeziehungen. Zwischen Matthias, geschieden, Anwalt in München, einfühlsam, jedoch latent mehr einfordernd, als sie zu geben bereit ist, mit einer geschmackvoll ausgestatteten Wohnung, einem grünen Daumen für Pflanzen und seiner Zuwendung, die Clara oft zu viel wird. Ist sie in seinem Leben und in seiner Wohnung nur ein weiteres, geduldig ausgewähltes Artefakt? Sein amouröser Konterpart ist Gabrio, Flugkapitän, ihr Kollege bei der spanischen Airline und einst Claras Ausbilder beim Flugkurs in den USA, ein grober, streitsüchtiger Macho, selbstbewusst bis zur Arroganz, auch sexuell gebieterisch, ja herrisch, ein Mann, der sie „beruflich vernichten würde, wenn sie ginge“, so Clara. Dazu kommt die Hängepartie, zum Kapitänskurs zugelassen zu werden, die vom Management gemachte Zusicherung ist bereits um drei Monate überschritten. „Gabrios Prügel hatte sie über sich ergehen lassen. Matthias dagegen hatte sich im letzten Jahr mehr und mehr in ihre Gedanken eingeknüpft. Zuletzt war es wie ein Weckerpiepsen, das sie selbst im Cockpit nicht abstellen konnte.“
Professionell ist Clara von großer Sicherheit, emotional und psychisch dagegen ist sie labil. Und so flieht sie für einen Urlaub nach Sri Lanka. Nach elf Jahren ist sie zum ersten Mal wieder dort. Damals lernte sie einen väterlichen Guide kennen, mit dem sie gemeinsam die Insel erkundete und für sich entdeckte. Dann, auf der Rückfahrt im nightmail-Zug nach Colombo, wurde sie das Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch betrunkene Soldaten. Dann einige Zeit später, in Mombasa, neuerlich eine Vergewaltigung durch mehrere Männer. Und seit einem Vierteljahrhundert hat sie tief in ihrer Psyche einen massiven, verstörenden sexuellen Missbrauch durch einen Freund ihrer Großmutter vergraben, an den zu rühren so schmerzhaft ist, dass sie dafür keine Worte hat. „Sie konnte mit niemandem über die emotionalen Restbestände reden, als die Selbstüberschätzung, die sie dem 777-Typerating verdankte, bröckelte. Jeder Stromkreis im Flieger hatte ein Back-up, dachte sie, nur meine blöden Nervenbahnen haben keines. Stimmen kamen ohne Warnung, zerflatterten, Selbstvorwürfe zerrannen an ihrem Körper.“
Sri Lanka bereist sie mit einem Motorrad. Sie sucht nach Balance, denn endlich konnte sie die physisch wie psychisch brutale Beziehung mit Gabrio beenden. Doch auch Matthias hat ihr einen Brief geschrieben, in dem er das Ende ihrer Liebe in Worte zu fassen versucht. Diesen Brief hat sie tief in ihr Gepäck geknüllt, erst kurz vor der Abreise findet und liest sie ihn und bricht endgültig zusammen.
„Fluchtwege sind nie ausgetretene Pfade. Verdammter Blödsinn. Sie war Pilotin. Die den Boden unter den Füßen verliert. Wie sollte sie jemandem da unten denn auf Augenhöhe begegnen, wenn sie so lange von oben runtergeschaut hatte.“ Gefühlsmäßig ist sie kaum gewachsen, sie fühlt sich durch und durch unsicher. Nur das Fliegen, eine Zuflucht, mit der sie sich buchstäblich über alles erheben kann, verleiht ihr Sicherheit und Leichtigkeit und so etwas wie Halt. „Im Flug musste sie sich nicht festlegen, sich nur im Gleichgewicht zwischen Zeitlücken halten, die Zukunft war ohnehin interessanter als das Jetzt. Doch die Zukunft war nicht von Dauer, reichte höchstens bis zur nächsten Landung an einem austauschbaren Ziel. Ihr Energiekonto war weit überzogen. Der Ton einer unsichtbaren Stimmgabel hatte sich durch das ganze Flughafenlabyrinth ausgebreitet, raubte ihr das Gehör. Nicht sie zitterte, sondern der Boden, die Wände bebten.“
Dann wird Clara Kapitänin. Doch nur kurze Zeit später verkündet ihre Fluglinie die Insolvenz. Nach Wochen existenziellen Bangens, der Beklemmung und der Verzweiflung bewirbt sie sich bei einer Safari-Airline in Tansania. Und wird zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Kann sie, darf sie, wird sie weiterfliegen, einziges sie erfüllendes Ziel in ihrem Leben?
Gunther Neumann, in Linz geboren, heute in Wien ansässig, hat lange für Nichtregierungsorganisationen, die OSZE, die Europäische Union und die UNO wie auch als Auslandskorrespondent in Asien, in Afrika und in Lateinamerika gearbeitet. Dass „Über allem und nichts“ sein literarisches Debüt sein soll, mag man kaum glauben. Respektive sogleich die Maxime aufstellen: das erste Buch erst nach intensiven Welterkundungen im vorgerückten Alter schreiben! Mit diesem furiosen und sprachlich ausgefeilten Buch voller intensiver, nahezu magisch aufgeladener Orts- und Landschaftsbeschreibungen vor einem hochaktuellen ökonomischen Hintergrund von prekären, teils ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen – Kehrseite des Billigtourismus – präsentiert Neumann eine faszinierende Charaktertiefenbohrung einer von Schmerz umgetriebenen, zutiefst unglücklichen und verletzten Glückssucherin, die Gelegenheiten ausweicht, die sie einengen könnten, die Konstellationen sprengen muss, um wieder einsam zu sein, die Glück spüren will und doch nur eines unternimmt – dem Glück zu entfliehen. Die sich betäuben muss, um das Vakuum in ihrem Leben nicht mehr zu spüren. „Nach dem Verstummen der Turbinen vibrierte ihr elektrischer Körper für Stunden weiter, aus Andockraupen pulsierten Menschenschwärme in den Terminal, die Rolltreppe zog ihre Hand davon, ihrem Puls voraus oder hinterher, ein weiterer gestriger Tag, Aufbruch ohne Ankunft, sie war übererregt, abgestumpft, zugedröhnt im Lärmkraftwerk jenseits der Erschöpfung, bis es keinen Unterschied zwischen aus dem Takt geratenen Codes und sinnfreiem Rauschen mehr gab.“