Der latente Antisemitismus trifft im austrofaschistischen Wien verstärkt jene, die aus „rassischen Gründen“ aus Deutschland vertrieben wurden. Nach vergeblichen Versuchen, an Wiener Theatern unterzukommen, schlüpft Reuss in eine Rolle, die Hilde Haider-Pregler in ihrer ausführlich dokumentierten Biografie als „Überlebenstheater“ bezeichnet: Aus dem jüdischen Schauspieler Leo Reuss wird der blonde, vollbärtige Bauer Kaspar Brandhofer. Ein Bilderbuchnaturbursche, der direkt vom Bauernhof den Sprung auf die Bühne schafft. Auf Empfehlung von Max Reinhardt erhält er ein Engagement im Theater in der Josefstadt und debütiert erfolgreich in einer Dramatisierung der Schnitzler-Novelle „Fräulein Else“. Doch bereits wenige Tage nach der Premiere fliegt die Verkleidung auf, Reuss wird erkannt und emigriert 1937 ein zweites Mal. In Hollywood landet er beim Film und spielt ironischerweise vor allem Nazi-Rollen.
Die Lebensgeschichte des Leo Reuss ist spektakulär und „undramatisch“ zugleich. Der Schauspieler konnte seine Doppelrolle nicht mit dem gewünschten Effekt, der erhofften politischen Wirkung, zu Ende spielen: Am Höhepunkt der Karriere wollte er seine Verkleidung fallen lassen, um damit auch die Ideologie der Nazis zu demaskieren und bloßzustellen.
Felix Mitterer, der – wie er in seinem Vorwort schreibt – diese Geschichte bereits seit den siebziger Jahren kennt und von ihr nicht mehr losgelassen wurde, legt in der Dramatik ein Schäufelchen nach, er spitzt die Handlung zu. Arthur Kirsch alias Benedikt Höllrigl, so die Bühnennamen, geht nicht nach Wien, sondern feiert seinen Triumpf mitten im nationalsozialistischen Berlin. Wie der biblische Daniel kehrt er in die Löwengrube zurück, an jenes Theater, aus dem er schmählich vertrieben wurde. Der Autor verhilft Leo Reuss so zu dem, was ihm im Leben versagt geblieben ist: zu einem grandiosen Sieg. Arthur Kirsch steht gleichberechtigt neben dem Hauptmann von Köpenick und dem listigen Schwejk.
Durch dieses Zuspitzen aber hat sich Mitterer selbst ein Bein gestellt. Was auf der einen Seite aufgebauscht wird (Goebbels persönlich ehrt den Schauspieler!), muß auf der anderen Seite wieder runtergespielt werden. Nach und nach erkennen zwar alle wohlgesinnten Kollegen die Verkleidung, aufgedeckt aber kann sie gar nicht werden, denn das würde Arthur Kirsch das Leben kosten. Deshalb zieht sich Kirsch nach seinem unsichtbaren Sieg auch geläutert ins Privatleben zurück.
Auf literarischer Ebene umrahmt der Autor sein Stück mit den zwei wichtigsten jüdischen Figuren der Dramenliteratur: Shakespeares Shylock, der auf Rache sinnt, und Lessings humanistisch-versöhnlichen Nathan. Am Ende will Mitterer die Versöhnung über die Rache siegen lassen. Da aber der Lessing-Text heute einige Tücken birgt – War es Gottes Ratschluß, daß sechs Millionen Juden ermordert wurden? – hat Mitterer einen zweiten Schluß verfaßt. Und im Volkstheater wurde sogar eine dritte Variante präsentiert.
Felix Mitterer hat ein überaus gut gebautes Theaterstück gezimmert. Alle Fäden werden kunstvoll verknüpft, so manche Themen angespielt: von der Bauernposse bis zum Ehedrama, von der politischen Parabel hin zum Rührstück, und vor allem ein Theater-auf-dem-Theater-Spaß, bei dem Mitterer alle gängigen Theaterklischees ausspielt und ausreizt. Gerade diese Ausgewogenheit und dieses Jonglieren mit Altbekanntem macht den Text aber auch so glatt und problemlos publikumswirksam. Man wird nie wirklich gefordert, auf der einen Seite breitet ehrlich gemeinter Humanismus seine Arme aus, auf der anderen laden altbekannte Klischees ein, doch wieder einmal über sie zu lachen. Wahrscheinlich ist deshalb „In der Löwengrube“ im Volkstheater auch schnell zu einem Publikumserfolg geworden.
Hilde Haider-Preglers Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Schauspielers Leo Reuss trägt den Titel „Überlebens-Theater“ und ist gerade rechtzeitig zur Premiere von Felix Mitterers Stück In der Löwengrube erschienen.