Der Wiener Autor Lukas Meschik begibt sich mit seinem neuesten Werk auf die Spuren von Paul Auster. Nachdem er 2009 im Luftschacht-Verlag mit dem Roman Jetzt die Sirenen debütierte, legte er im März 2010 mit dem Erzählband Anleitung zum Fest nach. Nach einem kurzen Abstecher zu Jung und Jung, wo er den Roman Luzidin oder Die Stille vorlegte, und einem Engagement als Kitzbüheler Stadtschreiber im Herbst 2013 fand Meschik seine Heimat beim Limbus Verlag. Letztes Jahr veröffentlichte er hier den Roman Über Wasser, der in einer Großstadt spielt und eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt. Ähnlich wie bei Valentin Kemp, wenn man mal außer Acht lässt, dass dieser aus seinem Stadtleben rausgerissen wurde.
Wie dieses Rausreißen abgelaufen ist, weiß er selbst nicht mehr genau. Aber er hat eine Ahnung, was er der Polizei erzählen würde. Für den Fall, dass sie ihn finden: „Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern können?, werden die Beamten fragen. Verschwommen zwar, aber doch: an den mit T verbrachten Abend. Wer ist das? Ein Bekannter, ein Kapitel für sich. T ist ein Patient, habe ich schon öfters Leute sagen hören. […] Name, Adresse, befehlen die Beamten und digitalisieren die von mir angegebenen Personalien.“ Doch auch Valentin fühlt sich wie ein Leidender. Er wird von existenziellen Ängsten geplagt. Kann das Schreiben ihn und seine Freundin ernähren? Könnte er eine kleine Familie durchbringen? Er weiß es nicht, findet keine Antwort darauf. Doch er hat eine Ahnung, was er tun sollte: die leeren Blätter beschreiben. Denn schließlich ist das doch seine Bestimmung, oder? Gesagt, getan: „Zwei Dutzend einseitig beschriebener Zettel. Nur in Ausnahmefällen bewusst Zeilen geschunden. Ich frage mich, was jetzt geschieht, ob nach der nächsten Dunkelphase neues Papier darauf wartet, von mir bekritzelt zu werden, mit mehr oder weniger unnützem Zeug. Ob man mich gehen lässt, weil ich ausgequetscht bin, eine von tausenden Wahrnehmungsdrohnen, die man als Teil dieses monströsen Forschungsprojekts in eine Extremsituation zwingt und als subjektive Schilderer inner Qualen missbraucht.“
Mit einer Entlassung wird er nicht belohnt, aber in einen zweiten Raum verlagert. Ein wenig mehr als nur das notwendigste Mobiliar befindet sich hier: „Die neue Umgebung, in die man mich verfrachtet hat, lässt sich am ehesten als wohnliches Apartment beschreiben, nun unter Bedachtnahme auf menschliche Grundbedürfnisse ausgestattet, die jenes nach Zerstreuung miteinschließen.“ Erklärungen für Valentins Aufenthalt aber weiterhin nicht: „Wie sehr ich mir auch den Kopf zermartere, wem es ein Anliegen sein könnte, mich aus unserem gemeinsamen Leben zu reißen, komme ich zu keinem befriedigenden Ergebnis. Ununterbrochen gehe ich in mich, überlege: Wem habe ich wann wodurch was angetan, dass er mir das antut?“ Sein Gedanken kreisen – immer weiter weg von Valentin und immer mehr um Marion: „Marion – einerseits das unerträgliche Gefühl, zu dir zu sprechen, gleichzeitig das Bedürfnis, von dir zu sprechen, damit also vorgestellten Anderen über uns zu erzählen.“ Doch da ist noch etwas. Etwas das sein Denken so einnimmt, wie es Marion nie konnte und kann: das Schreiben. Valentin ahnt, dass die Entführung auch ein Glücksfall sein könnte: „Ich sitze hier, weil jemand – wer immer es ist – dafür sorgt. Ausgangslage jedes ernstgemeinten Kreativseins: mit sich aIlein gelassen, auf sich zurückgeworfen zu viel Zeit zu haben. Immer schreiben, als wäre es das erste Mal. Nein, immer so, als wäre es das letzte Mal. Doppelt nicht, sondern kombiniert: als wäre es gleichermaßen erstes und letztes, also einziges Mal, ein singulärer, unwiederholbarer Akt. „Geht es darum? Sind die beiden Räume nur symbolisch zu lesen? Je ein Raum für eine Stufe des Entstehungsprozess eines Werks? Alles bloß ein Gedankenspiel von Meschik? Vielleicht. Doch dann kommt der Wechsel in den dritten Raum. Und mit ihm ein neuer Bewohner. Ein Mann, „zwei Jahrzehnte oder drei“ älter als Valentin, und „einen gepflegten, kurz gehaltenen Vollbart“ tragend. Der ihm erklärt, dass er nicht gefangen sei: „Selbstverständlich kannst du jederzeit gehen. Die Tür – dabei gab er ihr beiläufig per Handzeichen den Einsatz wie ein leidenschaftsloser Dirigent – ist offen. So wie alle Türen im ganzen Haus. Allerdings wäre das schade. Niederschmetternd schade. Wenn du jetzt abhaust, war alles umsonst.“ Was war umsonst? Die Entführung? Das Schreiben? Valentins Existenz? Die Antwort bleibt aus.
Der Mann, Pavel Menntik, überreicht Valentin einen Brief, den er selbst verfasst haben soll und in dem er erklärt, dass er sich zurückgezogen habe, um zu schreiben und ein Werk zu schaffen, das ihn finanziell absichert und Nachwuchs ermöglicht: „Ich möchte ein Kind. In diese Idee habe ich mich vernarrt. Und eines wäre mir wahrscheinlich zu wenig, wie dir ja auch, zwei oder drei sollten es schon sein. Bevor man diesen Schritt wagen kann, müssen Geld und Leben stimmen.“ Damit es in seinem Leben stimmt, beschließt Valentin seinen Aufenthalt als Chance zu sehen. Er verbringt von nun an mehrere Stunden täglich mit Pavel. Sie essen, sprechen und diskutieren. Worüber? Über das Schreiben, über Valentins Platz in der Welt, über Marion. Die restliche Tageszeit ist Valentin mit seiner Schriftstellerei beschäftigt. Minuten, Stunden, Tage, Wochen vergehen – so scheint es zumindest. Plötzlich geschieht es. Valentin ist draußen. Erfolg und Sicherheit kehren in sein Leben: „Es geht voran. Achtungserfolge stellen sich ein, später sogar richtige, erzählenswerte, für die man sich nicht wie ein Betrüger vorkommt. Die Jahre sind ein ständiges Jetzt, das nicht verschoben werden kann und vehement sein Recht einfordert. Bewusst ist unser neues Lieblingswort. Marion wird gewollt schwanger, wir leben unsere Feierlaune aus. Eines reicht, beschließen wir und halten uns daran.“ Und Pavel Menntik? Wo ist der geblieben? Man weiß es nicht genau. Er ist verschwunden. Einfach so. Oder doch nicht?
Lukas Meschiks Roman Die Räume des Valentin Kemp ist ein Dialog mit dem Schreiben an sich. Was kann ein Autor? Ja, was darf er können? Kann er erzählen, kommentieren, und gar selbst als Figur mitspielen? Meschik zeigt, wie es geht. Mit präzisen, kritischen und ironischen Worten gelingt es Meschik den Leserinnen und Lesern Einblick in die Gedanken eines Schriftstellers zu gewähren. Wieviel reale Welt braucht die Literatur? Und wieviel Literatur braucht die Realität? Der Roman macht klar: Auch Literatur baut selten etwas auf, wofür sie die Steine nicht woanders herholt.