Liebevoll parodierend, zeichnet Christian Mähr die Vorarlberger Kulturszene, in der viele Künstler Lehrer sind und manche Lehrer Künstler. Wunderbar treffend die Darstellung des pfeiferauchenden 6-Tage-Bartträgers Gottfried Scheuchzers, in dem unschwer der Komponist Gerold Amann zu erkennen ist. Scheuchzer begleitet die Handlung des Romans auf raffinierte Weise, da er dem Icherzähler und ORF-Mitarbeiter Peter Fischer, der mehr und anders in die Fliegerei verwickelt wird als ihm lieb ist, in Etappen ein Konzept für ein Open Air-Spektakel liefert. Gegenstand des auf apokryphen Bibelstellen beruhenden Scripts: Wundertätigkeit, Scharlatanerie, übernatürliche Kräfte.
Es geht im dramatischen „Text im Text“ wie auch im Plot ums Fliegen, den klassischen alten Traum der Menschheit, der mitten im Dornbirn von heute so plötzlich wie unspektakulär wahr wird: Simon Ulrich erhält – per Luftpost, versteht sich – eine Karte von einer unbekannten Absenderin, die ihm von La Palma aus die Befähigung zur Levitation verleiht. Und tatsächlich. Simon fliegt. Nicht in reißerischen Flugshows, sondern vornehm, zurückhaltend und fürs erste nicht öffentlich. Was diese ganz und gar außerordentliche Gabe in seinen Mitmenschen auslöst, wie sich diverse Verwicklungen und Intrigen von Dornbirn in ein kurzes Finale nach La Palma verlegen und wie diese besondere Fähigkeit Menschen abhandenkommt und – „zufliegt“, das alles packt Christian Mähr in einen ungewöhnlichen und mitreißenden Roman.
Einzige Schwäche des Romans sind die Darstellungen dessen, was mancherorts als Liebesszene bezeichnet wird. Es fällt Mähr augenscheinlich schwer, für Sexualität eine Sprache zu finden, und die eher plumpen Schilderungen, wo einander brünstig „zugekeucht“ wird, wirken sich auf den Drive des Romans nicht eben beflügelnd aus. Da kommt es dann vor lauter Leidenschaft auch zu logischen Fehlern: „Sie weiß über den Mann nur, daß sie ihn liebt. Sie ist ihm verfallen. Aber sie kann sich nicht wirklich vorstellen, daß sich dieser Zustand jemals ändern wird.“ (S. 89). Ein unangebrachteres „aber“ und ein halb so unangebrachtes „wirklich“ kann sich, wer ahnt, was „verfallen“ heißen soll, ebenfalls nicht „vorstellen“. So nehmen bedauerlicherweise gerade die amourösen Intermezzi dem Roman Schwung und Elan.
Dasselbe gilt für die augenzwinkernden Einblicke des Autors, in denen er zu nah am Klischee bleibt, wie Männer zu wissen meinen, daß Frauen über Männer denken – Sophia zu sich bzw. dem Leser: „Männer sind in einer sehr speziellen Weise ein bißchen beschränkt.“ (S. 189) Stark ist Mähr, wo er diese These nicht plakativ aus „weiblichem“ Wissen verkünden bzw. beiseite sprechen läßt, sondern sie illustriert: Von bemerkenswert groteskem Humor zeugt etwa die Passage, in der Otto Jakob, eine der drei männlichen Schlüsselfiguren, mit zur Tarnung hellblau gestrichenem Motorradanzug und zünftigem Proviant seinen ersten und einzigen Langstreckenflug antritt.
Christian Mährs Porträt Vorarlberger „Verhältnisse“ ist jedoch vor allem ein sehr gelungener, heiterer, phantastischer und als solcher natürlich überregionaler Roman, der der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ eine ganz und gar nicht unerträgliche Leichtigkeit, eine magische Beschwingtheit entgegensetzt. Im schwarzen Ländle braucht es kein Red Bull. Hier verleiht eben die Imagination Flügel – oder die „Nuestra Senora de las Nieves“.