Folgerichtig hat Kuratle Greta und Jannis auf der Folie einer so alten wie stets gegenwärtigen Gattung geschrieben. Der Roman ist im narrativen Urgrund des Märchens verankert, in seiner mythologischen Tiefe, seiner subkutanen Liminalität, seiner psychoanalytisch auslegbaren Symbolsprache. Insbesondere ist es, der Romantitel verweist schon darauf, das vielleicht berühmteste Märchen überhaupt, „Hänsel und Gretel“, das den intertextuellen, zur Umschreibung anregenden Resonanzraum bildet. Die „alte […] Hexe“ (121) ist hier Tante Severine, eine abseits der Dorfgesellschaft im „wirklich letzten Haus im Gebirge“ (13) lebende, mit magischem Wissen ausgestattete Frau. In Inversion der Märchenfigur bedroht Tante Severine verlorene Kinder aber nicht mit dem Leben, sondern gewährt ihnen Schutz. Nicht nur die mutterlose Greta wohnt bei ihr, auch die von Unbekannten weggegebenen Mädchen Melina und Flora. Im Lauf des Romans kommt dann auch noch der Bub Chaspar hinzu.
Das schicksalshaft miteinander verbundene Geschwisterpaar aus dem Märchen wird bei Kuratle (auch) ein Liebespaar, das seine von tiefster, geradezu ursächlicher Nähe getragene Zuneigung nicht in die Welt außerhalb seiner intimen Gegenwirklichkeit überführen kann. Nach einer vom gemeinsamen Aufwachsen, dem Sich-Erleben und Näher-Kommen der Seelen und Körper getragenen Kindheit und Jugend schreibt sich (räumliches) Getrenntsein in ihre Beziehung ein. Jannis, seit jeher auf besondere Weise von allen Hervorbringnissen der Natur – Pflanzen, Tieren, Steinen – berührt, geht in die Stadt, um Naturforscher zu werden. Greta indessen bleibt – der Tod der Mutter trägt dazu bei – im Gebirge zurück, besucht ihn nur hin und wieder für eine kurze, gemeinsame Zeit, bevor sie wieder zurückkehrt in ihr Leben bei Severine und den Kindern.
„Hänsel und Gretel“, wiewohl prägend, ist nur eines der vielen erzählerischen wie symbolischen Bezugssysteme, von denen Kuratles Schreiben abhebt. So gibt es eine den Roman in gewisser Weise strukturierende Mythologie des Apfelbaumes, der vor dem Haus der Tante steht: „Nach acht Jahren trägt der Apfelbaum diesen Winter wieder Früchte, im Garten all die goldenen Kugeln, könnten sie sich den Weihnachtsschmuck eigentlich sparen.“ (9) Das quasi-biblische Motiv des verbotenen, aber auch mit besonderer Wirkkraft ausgestatteten Apfels verästelt sich sowohl in die Liebesgeschichte von Greta und Jannis als auch in jenen Erzählstrang, der vom neu ins Dorf gekommenen und beim heimlichen Besteigen vom Apfelbaum gefallenen Cornelio handelt.
Cornelio wohnt in einem Mooshäuschen in der Nähe eines Schlosses, das verlassen ist, seit vor vielen Jahren die Frau des Schlossherrn mit ihrer kleinen Tochter bei einem Lawinenunglück ums Leben kam. Langsam erschließen sich Cornelios Verbindungen zum Schloss wie zur Familie, wenn man diese Gemeinschaft von Elternlosen so nennen möchte, rund um Tante Severine. Über Cornelio wird zudem eine Dimension des Künstlerischen und seiner ins Metaphysische deutenden Verschränkung mit der Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt in den Roman eingeführt. Im Schloss, das Cornelio mit Greta und später auch Flora und Melina erforscht, finden sich Bilder, die mit dem Liebes-Leben der Romanfiguren zu korrespondieren scheinen, und Räume, in denen Menschengemachtes und Naturgewachsenes bedeutungsvoll ineinander übergehen: „Vom Bettgerüst sieht er wilde Sträucher bis zu allen vier Wänden wachsen, bis hoch an die Zimmerdecke zieren sie grüne Früchte, geformt wie Erdbeeren, Himbeern oder Brombeeren. […] Auf dem Weg zurück schiebt er das Bett ganz an die Wand und deckt so am Boden ein Bild auf, ein verliebtes Paar auf blauem Grund.“ (126)
Greta und Jannis ist ein kunstvoll komponierter Roman von außergewöhnlicher sprachlicher Qualität. Kuratles poetisch ausgereifte, zeitlos-elementare Sprache steht dabei nicht für sich, sondern korrespondiert auf vielschichtige Weise mit den philosophischen, symbolischen und erzählerischen Grundaspekten des Romans. Ein romanästhetisches Meisterstück, ein sprachliches Kunstwerk, ein literarisches Ereignis.