#Prosa

Somei

Martin Kubaczek

// Rezension von Astrid Wallner

Das kleine Büchlein mit dem robusten Einband hat etwas von einem Reiseführer, was nichts gegen Reiseführer sagen will, denn umgekehrt tut gute Literatur sehr wohl etwas für die allgemeine Beweglichkeit. Es geht tatsächlich in die Ferne, wir sind in Japan und gleichzeitig hier und verspüren mit dem Kalligraphen, der hier am Werk ist, das Glück, das er zur Sprache bringt. Das Glück der Wahrnehmung, des Sagens und Benennens: „Es gibt nur ein leidenschaftliches Beobachten, ein lustvolles Schauen (Du Voyeur der Mitte), der Triumph, es in Worten wiederzuerkennen (Striche in eine andere Welt)“
(S. 71).

Wir sind mitten im Erkennen dessen, was er sieht, wandern, gehen mit durch den Somei-Garten, den der Autor bei seinem täglichen Weg zur Universität – er ist Lektor in Tokio – durchquert. Bei seiner Lesung am 18. November 1997 im Literaturhaus in Wien erzählte er, daß dieser Färbebrunnen-Garten inmitten eines Friedhofs liegt, der – anders wie bei uns – viel belebter ist, es wird gejoggt, gearbeitet, Kinder spielen ungeniert – es wird gelebt unter den Toten. Wir spazieren mit ihm und nehmen mit ihm wahr. Es ist die Sprache, die das Wahrgenommene auszeichnet. „Messerhaarschnitt, die Bambushecke, kurzfrisiert“ (S. 7), „Wie kühlt das Klicken der Heckenschere!“ (S. 20): Hier handelt allein die Wahrnehmung, die Geschichte dessen, der erzählt, bleibt Andeutung. Auch in den Berührungen und Gedanken an eine geliebte Frau bleibt es aufgehoben, das Moment des Lebens, das nicht zu fassen ist. „das Nicht-Greifen-Können der Wirklichkeit (der Luft)“ heißt es einmal (über den Bambus) (S. 80). Der Vielfalt der Eindrücke entspricht nämlich auch die Form, und die wiederum macht die Lektüre wirklich zu einem vergnüglichen und dynamischen Unternehmen: man kann das Buch überallhin mitnehmen und eintauchen in die Schriftzeichen, die in kurzen Abschnitten, in oft nur ein- bis halbzeiligen Wortperioden gesetzt sind.

Martin Kubacek kalligraphiert mit Sprache. In Wortperioden, einzelnen Worten, Prosagedichten, die kurzen ohne, die längeren mit Interpunktion, entstehen farbige Bilder, Nominalkataloge, Momentaufnahmen, die die synästhetisch bewegte Welt festhalten. „TA KU SHI – die silbern reflektierenden Schriftzeichen über dem Kreuzstich des Steinbelags, random-Bewegung des Blättersammlers. Lederjacke, Einkaufswagen, Zigaretten-Abdämpfsäule mit blauer Rundkappe mit Löchern, verstellt der Zugang zum Weg, Getränkeautomaten leuchten aus dem Bahnhofsinneren, oberm Stiegenaufgang Weihnachtsgrünrot, Glastüren werden aufgeschoben, der Mantel im großen Karo, weißgrau. Die Sonne schiebt ihre Geometrie über den Platz, Quader, Segment, der Blätterkehrer wartet […]“ (S. 35).
Kubaceks Poetik ist eine der Gleichzeitigkeit: „Mit der Netzhaut fische ich Treibgut, angeschwemmt, schaukelndes Plankton, die Luft sämig […]“ (S. 29) So entsteht ein (theoretisch unendlich fortsetzbarer) Katalog der Eindrücke und Wahrnehmungen, der dem Pulsieren der Wirklichkeit Sprache verleiht.

Martin Kubaczek Somei
Texte.
Mit einem Fotoessay von Akihiro Uekuzu und Martin Kubaczek.
Wien, Bozen: Folio, 1997.
104 S.; brosch.
ISBN 3-85256-068-3.

Rezension vom 25.11.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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