Womit wir beim zweiten „Schade“ sind: bei der ausufernden Fülle der 1000 Seiten. Krenek hat die Niederschrift 1942 im amerikanischen Exil begonnen und zehn Jahre später abgeschlossen. Ihm war es tatsächlich um „Erinnerungen an die Moderne“ zu tun, die im Abgrund des Dritten Reichs zu versinken drohte. Die Schreibarbeit war also eine Art Selbstversicherung – und die Textmenge eine Art antifaschistischer Schutzwall. Das gesamte Buch hatte ursprünglich nur sechs Riesenkapitel, ohne Zwischenüberschriften. Nun, bei der postumen Edition, zumal in deutscher Srpache, wären Kürzungen ein Dienst an der Sache gewesen.
Dennoch empfiehlt sich das Mammutwerk zur Lektüre: Hier erzählt einer, der das Vergnügen am Erzählen auf den Leser zu übertragen weiß und dabei scharfsichtig größere Zusammenhänge im Auge behält. Kreneks Schreibweise ist offenherzig und durchaus selbstkritisch: Immer wieder hält er inne, um seine mangelnde Zielstrebigkeit auf dem musikalischen Weg, sein Fixiertsein auf Wien oder sein Verhalten gegenüber den Frauen zu tadeln. Ernst Krenek ist außerdem ein Musiker, der nicht ständig über Musik redet, und wenn er es tut, dann so, daß auch Laien es verstehen.
Am meisten überrascht wohl die Erkenntnis, daß Krenek, der 1927 mit seiner „Negeroper“ „Jonny spielt auf“ einen ungeheuer heftigen Kulturkampf entfesselt hatte, im Grunde ein höchst konservativer Mensch und (von seiner Veranlagung her) auch Musiker war. Sein Vater war k.u.k. Offizier und als gebürtiger Tscheche nach Wien gezogen. Krenek selbst litt als Pazifist unter dem kurzen Militärdienst, den er noch zu leisten hatte, und begrüßte das Ende der alten Ordnung. Im Rückblick aus Amerika hebt er allerdings die übernationalen Kräfte der Armee und die verpaßten Rettungschancen der Monarchie hervor. Das Habsburger-Reich erscheint vor dem Hintergrund des so rasch gekommenen Dritten geradezu als verlorenes Paradies: „Ich bin weder Tscheche noch Deutscher, und Österreicher zu sein, erscheint praktisch jedem lebenden Mensch als eine künstliche Abstraktion.“
Genau dieser Abstraktion verschreibt Ernst Krenek sich jedoch mit Haut und Haaren. Sein Patriotismus nährt sich nicht zuletzt aus einer gewaltigen Aversion gegen das deutsche Wesen, das er zum ersten Mal näher kennenlernt, als er seinem Lehrer Franz Schreker nach Berlin folgt. Ob hier oder in seinen geliebten Tiroler Bergen: unter der „Prahlerei der deutschen Rasse“ leidet Krenek schon vor dem Aufstieg der Nazis. Sein Stern jedoch beginnt ausgerechnet in Deutschland zu steigen. Unter den vielen Weggefährten und -gefährtinnen, die Krenek prägnant zu charakterisieren versteht, tummeln sich naturgemäß etliche Berühmtheiten. In erster Ehe war er mit Anna Mahler, der Tochter von Gustav und Alma, verheiratet, weshalb Krenek sich dem verwirrend luxuriösen Haushalt von Alma und Franz Werfel, deren drittem Ehemann, ausgeliefert sah. Ein Freund der Familie war Alban Berg, den Krenek unter den Exponenten der Wiener Schule am liebsten mochte. Mit Rilke befreundete er sich in der Schweiz, mit Adorno in Deutschland. Von Karl Kraus, den er seit früher Jugend als persönliche moralische Instanz verehrte, wurde er in den „zweitinnersten Kreis der Auserwählten“ aufgenommen.
Seinen größten Erfolg, „Jonny spielt auf“, interpretiert Ernst Krenek als Mißverständnis: Die neoromantische Jazzphase war nach atonalen Anfängen für ihn nur ein Durchgangsstadium zu einer ernsthaften Befassung mit der Zwölftontechnik. Das Opus magnum dieser Zeit, „Karl V.“, sollte 1933 an der Staatsoper unter Clemens Krauss uraufgeführt werden, wurde jedoch auf Druck von Heimwehrkreisen abgesetzt – obwohl Krenek getreu seinem patriotischen „konservativ-radikalen“ Credo dem Ständestaat huldigte und der Vaterländischen Front angehörte. Mit der Machtergreifung der Nazis wurde er in Deutschland als „tschechischer Jude“ diffamiert, worauf er schriftlich entgegnete, er sei weder Tscheche noch Jude; eine Erkärung, für die er sich gründlich schämte, die freilich wirkungslos blieb. Den Anschluß erlebte Krenek auf einer ausgedehnten Vortragsreise in den USA, womit das Exilland feststand. Sein Lebensbericht reicht nur bis zur Ankunft in Amerika, ein zweiter Teil sollte niemals folgen. Krenek war ein Zeitgenosse des Jahrhunderts, aber nur dessen erste vier Jahrzehnte waren für ihn der Rede wert.