Kein Wunder also, daß Herta Müller ihre Auswahl mit jenen Texten beginnt, in denen der Jude Kramer gleichsam mit zugeschnürter Kehle vom Wien des Jahres 1938 spricht, als er, der sehnsüchtig-bodenständige Dichter der Vorstadt und des Umlandes, nolens volens der Ausreise entgegenwartete. Müller vergleicht Kramer mit Paul Celan, ihrem zweiten poetischen Fixstern, und meint, neben der „Todesfuge“ müßten auch Kramers Angstgedichte in den Schulbüchern stehen. Tatsächlich findet man dort immerhin schon des öfteren das geradezu klassische Titelstück „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“ oder auch „Wer läutet draußen an der Tür?“ Ebenso lesebuchtauglich wären sicherlich persönliche Gedichte aus dem englischen Exil, die Porträts alter Leute oder die atmosphärisch flirrenden Genrebilder wie „Im alten Gasthausgarten“ oder „Kleines Café an der Lände“.
Herta Müller hat aber just den sinnlichen Kramer für sich entdeckt, oder genauer: den erotischen. Und der käme sicher nicht im Lesebuch unter. Vom innigen Liebeslied bis zum gepfefferten Bordellappell reicht das Spektrum, Kramers wahrhaft ungeschminkte und doch nicht kraftmeierende Rede vermag immer wieder zu verblüffen. Müller sieht in dieser zupackenden Direktheit einen Grund dafür, daß Theodor Kramer trotz seiner realistischen, erdigen, ja volkstümlichen Lyrik jahrzehntelang im Eck der „Exilliteratur“ abgestellt blieb. – Sexuelle Genüßlichkeit vertrüge sich nicht gut mit dem Opferbild des Emigranten. „Wann ein Mann von einer Hure geht …“, „Von der Onanie“, „Der Zuhälter“ – Kramer ist kein Dichter für Teekränzchen, und er soll bei solchen den einladenden Damen mit seinen Rezitationen die Schamröte ins Gesicht getrieben haben.
Bei dem Versuch, den „Dichter des plebejischen Österreich“ (Ernst Fischer) abzubilden, sind auch einige Stücke hineingerutscht, die in puncto Qualität nicht mithalten können, grobe Sentenzen, derbe Sprüche: „Von den Fürzen“, „Der Sumper“, „Von der Küchenschabe“. Liest man das schaurig schöne „Lied des Wanzenvertilgers“, wird allerdings klar, daß Kramer nicht am Thema scheitert, wenn er scheitert. Kein Ding ist ihm zu gering, sein Verständnis von Welthaltigkeit kennt keine „unlyrischen“ Gegenstände mehr, poetische Korrektheit liegt ihm fern. So gehören denn auch die irritierenden Selbstentblößungen im Licht einer kümmerlichen Alterserotik legitimerweise zu diesem ganzen Bild – genauso wie die verstörend gelassenen Abhandlungen des Themas Kindesmißbrauch. Wider (mein) Erwarten nicht im Band enthalten sind Kramers auf rumänischem Terrain, im Banat und in der Dobrudscha, angesiedelte Gedichte von glühenden Landschaften, reichen Gutsherren und rebellischen Landarbeitern, suggestive Bilder, die Kramer als eine Art Karl May der Ethnolyrik ohne Anschauung der Gegend phantasiert hat.
Wer sich Kramers Gedichte zum ersten Mal zu Gemüte führt, den kann Herta Müllers subjektive Best of-Sammlung jedenfalls nicht kalt lassen. Ist er auf den Geschmack gekommen, empfiehlt sich als Zuspeis die ebenfalls heuer vom Nachlaßverwalter Erwin Chvojka im „Club Niederösterreich“ herausgebrachte Sammlung „Der alte Zitherspieler“, die sich ganz auf die „Menschenbilder“ konzentriert, auf Theodor Kramer als den selbstvergessenen Sprecher „für die, die ohne Stimme sind“.