Aber dieser versagt sich Gefühle wie Mitleid oder allzu rege Anteilnahme am Schicksal des Alten, der seine Tage in einem Sanatorium zwischen Bett und Rollstuhl verbringt. Denn der Greis ist Dr. Georg Renno, der Arzt, der in Hartheim, der größten Vernichtungsanstalt im Rahmen des Euthanasieprogramms T4, 15.000 „unwerte Existenzen“ in den Tod schickte: Behinderte und Kranke, auch Kinder.
1997 hat der ehemalige „Presse“-Korrespondent und derzeit freie Schriftsteller Walter Kohl den Euthanasiearzt interviewt, und nun ist das Ergebnis seiner Gespräche und Recherchen bei Zsolnay erschienen. Kohl geht einerseits auf die Geschichte und Vorgeschichte des Euthanasieprogramms T4 ein, andererseits zeichnet er das Psychogramm eines Täters, von dem sich Autor wie Leser einerseits entsetzt abwenden möchten, um sich ihm dann aber wieder mitleidig zuzuwenden.
Die zwiespältigen Gefühle, die man Renno entgegenbringt, sind verstörend. Manchmal ist es, als wären es zwei verschiedene Menschen: der junge Arzt von Hartheim, von dem erzählt wird, der recht unheimlich ist in seiner NS-Karriere, und auf der anderen Seite ein sterbender Greis, der sich an die dunklen Seiten seines Lebens erinnert. Es ist aber nicht so, als wolle er vor dem Tod eine Beichte ablegen, mit sich ins Reine kommen. Nein, er möchte eher den Interviewer von seiner Version der Geschichte überzeugen.
Wenn über seinem Bericht in großen Lettern „Ich fühle mich nicht schuldig“ im Raum hängt, dann verschmilzt der alte Renno mit dem jungen, und Autor wie Leser überkommt eine Gänsehaut. „Ist das gesetzlich?“ hat Renno gefragt, als er Euthanasiearzt wurde. Ein Gesetz gab es nicht, aber eine Ermächtigung vom Adolf, wie er uns erzählt. Also muss das ja wohl in Ordnung sein. Aber die Aktion T4 sollte doch top secret bleiben.
Das Euthanasieprogramm „T4“ ist benannt nach arisiertem Besitz. Im Februar 1940 bezog die Zentralstelle nämlich eine herrschaftliche Villa in Berlin-Charlottenburg, Tiergartenstraße 4. Die Durchführung oblag sechs Anstalten im Reich. Die größte davon war Schloß Hartheim, nicht weit von Mauthausen, wo sich auch die Belegschaft auf diversen „bunten Abenden“ amüsierte, wenn nicht ohnehin im Schloß Orgien gefeiert wurden. Es gibt Untersuchungen über das ausschweifende Leben in Hartheim. Um den Alltag des Mordens besser verkraften zu können, flüchtete das Personal in Alkoholexzesse und/oder zahllose Sexaffären. Im Mai 1940 begann Dr. Georg Renno seine Arbeit in Hartheim. Und allein in diesem Monat werden in der Statistik der Nazis 633 Opfer angegeben.
Nun war aber Renno ein „weltläufiger und musischer“ Mensch, wie Walter Kohl konstatiert, der es „lieber gesehen hätte, wenn seine Arbeit nicht derart barbarisch abgelaufen wäre“. Die „Patienten“ wurden in Bussen geliefert, auf Zahngold untersucht, entkleidet und mit Kohlenmonoxid vergast. Wenige Stunden nach Ankunft eines Busses rauchte schon schwarzer Qualm aus dem Schlot des Krematoriums. Es war ein automatisierter Massenbetrieb.
Renno konnte der Idee einer Euthanasie für „arme Idioten“, die in seinen Augen sowieso keine Perspektiven und nichts vom Leben hätten, durchaus etwas abgewinnen. Nur hätte das nach seinen Vorstellungen individuell geschehen müssen. Also eher Händchenhalten beim Umbringen. Doch hätten die „Idioten“ auch in Hartheim keineswegs gelitten, darauf besteht er. Man habe ihnen einen sanften Tod bereitet, sie hätten das gar nicht mitbekommen. Andere Quellen berichten das anders.
Widersprüchlich ist ebenfalls, dass Renno einerseits auch heute am Euthanasieprogramm, „so wie es ursprünglich geplant war“ nichts Böses finden kann und sich nicht schuldig fühlt, andererseits aber auch betont, dass er etliche Menschen davor gerettet habe, etwa einen Zug voll Alkoholikern aus Steinhof. Auf die passten die Euthanasiekriterien eben nicht. Je mehr er sich aber von den Vorgängen distanzieren will und auf seine hin und wieder subversive Tätigkeit pocht, desto eher kommt sein Bericht einem Schuldbekenntnis gleich. Wenn alles in Ordnung gewesen wäre, hätte er ja wohl kaum das Bedürfnis verspürt, sich reinzuwaschen.
Dazu passt auch, dass er nach dem Krieg zehn Jahre lang unter falschem Namen lebte. Ganz so glatt dürfte der Umgang mit den angeblich gar nicht vorhandenen Schuldgefühlen dann doch nicht abgelaufen sein. Renno hat sich eine eigene Version von der Geschichte zurecht gelegt, eine Auslegung, in der er nicht als Täter vorkommt, und jetzt sucht er im Interviewer jemanden, der seine Sicht der Dinge anerkennen könnte, einen Zeugen vor der Ewigkeit. Der Autor kann und will ihm aber den Gefallen nicht tun. Er ist nicht befugt, ihm Absolution zu erteilen.
In seinem Prozeß 1965 sah Renno die Dinge offenbar noch wesentlich pragmatischer und verfolgte eine sehr erfolgversprechende Taktik: zunächst stritt er einmal alles ab, dann gab er immer nur zu, was man ihm beweisen konnte, was jeden Tag ein wenig mehr war. Und stets versteckte er sich hinter „Gedächtnislücken“ und schließlich auch hinter seinem schlechten Gesundheitszustand, den seine Kollegen von der Ärzteschaft auch anstandslos bestätigten. Der Prozeß wurde schließlich abgebrochen und Georg Renno zwar nie freigesprochen, aber auch nie verurteilt.