#Lyrik

Poesie von Meer und Erde

Gerhard Kofler

// Rezension von Helmuth Schönauer

Oft befällt einen bei der Lektüre von Lyrik die Angst, das Bändchen könnte zu Ende sein, ehe man in lyrischer Stimmung ist. Diese Angst braucht man bei Gerhard Koflers Poesie nicht zu haben, sein Lyrik-Band Poesie von Meer und Erde hat kontinentale Ausmaße, erinnert mit seinen über tausend Seiten von der Aufmachung her an einen kompletten Opernführer und umfaßt die Arbeit von neun Jahren. „Und hier nach neun Jahren / beende ich / mein Buch / genannt ‚Di Mare e Terra‘ / am neunzehnten Dezember / neunzehnhundertneunundneunzig / um neun Uhr am Morgen“ (S. 993). Beinahe wäre dieses Gedicht auch noch auf Seite 999 zu liegen gekommen.

In einem Interview erklärt Gerhard Kofler auf die Frage, ob es sich um ein Jahrhundert-Werk handle, das könne man so nicht sagen, aber ein Jahrzehnte-Werk sei es immerhin, was die Anstrengung und Ausdauer betrifft.

Wie immer steht Gerhard Koflers Lyrik beidbeinig im Buch, links italienisch, rechts deutsch, die beiden Sprachen ergänzen einander und sind weit mehr als bloß ein linearer Sprachtransfer. Da der Autor beide Sprachen gleich schätzt, läßt sich wie bei einem souveränen Unparteiischen nie feststellen, zu wem er letzten Endes halten wird. Nur einmal gibt es für patriotische Rätselfreunde einen kleinen Hinweis:
Eine Zeitung heißt „nostro“ und auf deutsch „eine italienische Zeitung“, was den Schluß nahelegt, das der lyrische Standpunkt letztlich mehr auf der italienischen Seite liegt.

Beim ersten Durchblättern tauchen ab und zu ein paar Begriffe auf, die auf Gerhard Koflers individuellen Lyrik-Kosmos in früheren Publikationen verweisen. Das erste Durchstreifen dieses lyrischen Kontinents wird ohnehin nach der Lexikon-Methode zu geschehen haben, man tastet sich von Begriff zu Begriff, von Überraschung zu Überraschung vor, bis eine abenteuerliche Stimmung entstanden ist.

Insgesamt besteht das umfangreiche Werk aus 15 Gedichtzyklen, die bis auf eine Ausnahme alle unveröffentlicht sind. Lediglich 21 Gedichte aus der Serie „Kleine Tassen“ sind 1992 als Freundesausgabe bei Dieter Scherr gedruckt worden. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, daß Gerhard Kofler den „gesamten Schöpfungsbericht zwischen Meer und Erde“ völlig neu, überraschend und beeindruckend gestaltet hat.

In der Hauptsache geht es um diese Trennungslinie zwischen fest und flüssig, Erde und Meer, allgemein und individuell.
So ist in den Café-Gedichten der Nachgeschmack im Gaumen und der braune Ring in der Tasse das Höchste vom Glück, wenn Verwitterung und Verdauung bereits einsetzen. An der Küste ist es der kleine Atem, der aus dem eigenen Mund fällt und es mit den Wellen und dem Himmelsgewölbe aufnimmt.
Und geographisch sind es unscheinbare Orte wie Lana oder Bruneck, die gleichwertig neben den Gesängen an Arkadien stehen. In diesen Kosmos hat Gerhard Kofler die aberwitzigsten Zeilen verpackt. „wenn so wenige mit matura eine fernsehsendung sehen“ (S. 281); „eng sind die straßen eröffnet im rauch das erinnern“ (S. 605); „nicht daheim ist / wer sich einschließt“ (S. 937). Auch das schönste Welt-Gedicht vom Aufhören aller Dinge und der Welt stammt aus Gerhard Koflers Poesie und heißt „Tilt“ (S. 89).

Der Wieser-Verlag, dem zu seiner Tapferkeit zu gratulieren ist, nennt die Serie, in der Gerhard Koflers Großwerk erscheint, „Europa erlesen / Literaturschauplatz“. Und tatsächlich wird Europa mit diesem supra-patriotischen Lyrikband eher vorstellbar als mit einem dicken Geschichtsbuch über Schlachten. Der literarische Schauplatz ist letztlich der unsterbliche.

Gerhard Kofler Poesie von Meer und Erde
Poesie di mare e terra.
Italienisch – Deutsch.
Klagenfurt: Wieser, 2000.
(Europa erlesen).
1055 S.; geb.
ISBN 3-85129-325-8.

Rezension vom 17.01.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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