Bis vor kurzem gab es im allgemeinen höchstens noch lokalpatriotische Beschäftigung mit der Autorin, die von ihren Anhängern liebevoll „s‘ Haldagretile“ genannt wird, nach der Parzelle „die Halde“ in Bludenz, wo sie geboren ist. Eine fünfbändige Tagebuchedition in Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt am Innsbrucker Brenner-Archiv soll diese Einseitigkeit in der Wahrnehmung relativieren, soll Gulbranssons Texte kommentiert zugänglich machen und nicht nur wissenschaftliche Rezeption anregen – Schon zuvor wird dieser Effekt möglicherweise durch einen anderen Text und einen sehr anderen Zugang bewirkt.
Elisabeth M. („Si. Si.“) Klocker, 1967 in Bregenz geboren, Kabarettistin und „Allround-Multitalent“, Landsfrau Gulbranssons, hat sich die literarische Ahnin als Inspiration, (A)Muse und Prätext für ein eigenwilliges Prosastück geschnappt. Neugierig stimmt es auf jeden Fall, wenn sich eine Autorin in ihrem literarischen Debut einer „verstaubten“ Landesgenossin annnimmt, noch dazu, wenn es sich bei dieser jungen Autorin um eine für schräg-exzentrische Aktionen bekannte Neodiva handelt. „Leer- und Wanderjahre einer Dichterin“ nennt Klocker im Untertitel ihre Femmage an die ideologisch nicht ganz unumstrittene Vorarlberger Autorin.
Ähnlich wie in Franzobels „Kafka“ tritt auch hier die wiederbelebte Autorin als literarische Figur und Hauptperson, als „unsere Protagonistin GRETE GULBRANSSON“ (S. 31) in konsequenten Versalien auf. Und anders als die reale Vorlage tritt Klockers Gulbransson, die oft freakhafte Züge trägt als zeitgemäßer Ausdruck dessen, was ehemals unter „Bohème“ verstanden worden ist, jedweder politischen Vereinnahmung in konsequenter Verweigerungsgeste entgegen: „Größe und Ruhm Israels soll erweitert werden? Mit mir nicht! Größe und Ruhm der Katholiken soll erweitert werden? Mit mir nicht! Größe und Ruhm des Islam soll erweitert werden? Mit mir nicht! Größe und Ruhm Europas soll erweitert werden? Mit mir nicht! Größe und Ruhm der USA soll erweitert werden? Mit mir nicht! “ (S. 71f) Die larmoyante Klage „Ich bin soo heimatlos“ (S. 43) ironisiert die zum Klischee geronnene Entwurzeltheitsgeste und stemmt sich gleichzeitig regionalpatriotischer Beanspruchung entgegen.
„Die neue Rassentheorie nach Gulbransson“ (S. 53) betreibt in Anlehnung an die „Pessimistischen Kardinalsätze“ (1905) der Helene Druskowitz kurz und bündig die ultimative Implosion des männlichen Geschlechtes. Auch die typologisch biographischen Rekonstruktionsversuche „Gretens“ scheinen sich durch den spöttisch-programmatischen Titel „Mutterschaft ade!“ (S. 16) selbst in Frage zu stellen. Aus dem „Altfeminismus“ zitiert Klocker/Gulbransson „Diskurs und Abhandlung in zwei Sätzen“: „Ein Mann hat die Tendenz eine Frau abhängig und depressiv zu machen. Die Literatur einer Frau im Beisein von Männern ist depressiv, lustlos, langweilig, schwerfällig, masochistisch und schließlich für das Selbstbewußtsein der Frau wertlos.“ (S. 59). Aus dieser Charakterisierung läßt sich ex negativo Klockers eigener ästhetischer Anspruch ablesen: witzig, lustvoll, kurzweilig, leichtzüngig, wenn schon, dann zumindest S/M und in bezug auf das „Selbstbewußtsein der Frau“ grenzenlos.
In zig, wenn auch nicht „1000 und 1“ kleinen Abschnitten wird eine GRETE GULBRANSSON vorgestellt, wie sie es sich sicher nie vorstellen hätte können. In einer „postpostmodernen“ (S. 63) Wirklichkeit, in der Identität nicht mehr stattfinden kann, zappt sich die Protagonistin durch Lebens- und Fiktionsfragmente; Klocker produziert überdrehte Prosa, die manchmal ganze Passagen englisch, manchmal in Alliterationsketten spricht, manchmal ganze Schnüre von Wortzusammensetzungen dreht. Resultat ist ein bunter Text in betont loser Struktur. Da kommt es dann auch schon einmal vor, daß vor lauter Brüchen der Text seinen eigenen Faden zu verlieren scheint und der Eindruck der Beliebigkeit sich aufdrängt.
Dialogpassagen treffen auf lyrische Einsprengsel, Dialekt und Umgangssprache auf antiquierende (Pseudo?)Zitate. Eine matriarchale Genealogie der „Schöße“ (S. 28ff) trifft auf „Ernährungsüberangebote aus dem Familienschoß“ (S. 36), Mackie Messer auf Paul Watzlawick, und immer wieder wird die weibliche Lust am eigenen Körper und an autonom gestalteter Sexualität zelebriert, wobei auch die theoretisch abgesicherte Affinität von Leib und Text nicht zu kurz kommt: „Ihr Körper sprach Bände.“ (S. 19)
„Einmal werde auch ich auf der Bühne stehen mit MEINEM SELFMADE-Monolog, ganz ohne fehlerhafte Klecksereien daumesdicker Dichter. Die eigene Wortsuppe würzen. Toll.“ (S. 61) läßt Klocker ihre, „unsere“ Grete Gulbransson in narzißtisch-hoffnungsvoller Zuversicht verkünden. Zum Teil mag daraus auch eine Sehnsucht der jungen Autorin sprechen, die ihrer Vorfahrin diese Worte in den Mund legt – In Klockers eigener Suppe mag zwar vielleicht noch das eine oder andere Haar zu finden sein, abgeschmeckt ist sie auf jeden Fall „toll“.