#Essay

Invasionen des Privaten

Anna Kim

// Rezension von Walter Wagner

Grönland, die Insel im Nordmeer, deren Landesinneres ein dicker Eispanzer bedeckt, mag zwar touristisch gesehen durchaus von der Klimaerwärmung profitieren, gilt aber nach wie vor als Geheimtipp für hartgesottene Individualisten.

Anna Kim hat dort mehr als einen Monat zugebracht, um einen Blick hinter Vorhänge und Türen zu werfen, und dabei Kaffee trinkende Normalbürger inmitten von IKEA-Möbeln angetroffen. In einem Punkt jedoch dürften sich die grönländischen Häuser von jenen Kontinentaleuropas unterscheiden: Sublime großformatige Postkartenlandschaften starren allenthalben durch die Scheiben und vermitteln selbst in der größten Stadt des Landes, Nuuk, mit ihren sage und schreibe 15.469 Einwohnern das beklemmende Gefühl, ständig von einer übermächtigen Natur beobachtet zu werden.

Der mit unaufdringlicher Neugier verfertigte Essay stellt anders als in einem Reiseführer die spärlichen Sehenswürdigkeiten, wenn es denn solche sind, nur flüchtig vor und fokussiert stattdessen die Bewohner dieser nördlichen Region, die paradigmatisch das Los der Kolonisierten spiegeln. Beim Lesen dieser eindringlichen Schrift wird sogleich klar, dass die Unterwerfung der dunkelhäutigen Rassen durch ihre weißen Antagonisten auf den verschiedenen Kontinenten stets nach demselben Schema funktioniert hat und die daraus erwachsenen Missstände verlässlich perpetuiert worden sind.

Im Fall Grönlands begann die imperialistische Unterwanderung der Inuit durch Dänemark vor fast vierhundert Jahren. 1654 soll eine Gruppe von Inuit verschleppt worden und zahlungswilligen Kopenhagenern zur öffentlichen Ergötzung vorgeführt worden sein. Die Frage, wer denn bei diesem Treiben tatsächlich unzivilisiert sei, wurde seinerzeit noch nicht gestellt.

Als der norwegische Pastor Hans Egede 1721 unweit von Nuuk eine protestantische Mission gründete, ging man systematischer vor. Zwangsbekehrungen mündeten in das Austreiben alles Heidnischen und der Einrichtung einer Zweiklassengesellschaft auf der Basis der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik. Der Typologie weiß, männlich, christlich, dänisch versus wild, heidnisch und grönländisch wurde der Einfachheit halber gleich eine ganze Gesellschaft unterworfen. Die um die gleiche Zeit gegründete Königlich-Grönländische Handelsgesellschaft machte sich das zuvor von den Protestanten in Beschlag genommene Terrain zunutze, um sodann die wichtigste Ressource, Walfisch samt wertvollemTran, auszubeuten.

Was die Autorin auf ihrer Reise ins moderne Grönland beschäftigt, sind also weniger die endlosen Eiswüsten, sondern vor allem die Spuren kolonialer Vergangenheit, die sich in den Biografien des indigenen Volkes niedergeschlagen haben. Eine auf vollständige Assimilation der Einheimischen ausgerichtete Politik der dänischen Regierung hat noch im vorigen Jahrhundert das Ideal der Zivilisiertheit als gesellschaftliche Norm propagiert und auf diese Weise das Selbstverständnis der Inuit nachhaltig erschüttert. Selbst die wenigen, die sich im fernen Dänemark Bildung und westliche Lebensart anzueignen vermochten, sind nicht zuletzt aufgrund ihrer Hautfarbe fremd und zwischen den Kulturen gestrandet.

Die Authentizität des Reiseberichts schuldet sich nicht zuletzt dem Umstand, dass die Verfasserin selbst als Österreicherin koreanischer Herkunft im kulturellen Niemandsland ‚beheimatet‘ ist. Dies wird ihr auf schmerzliche Weise in dem Moment bewusst, da sie von ihrer Quartiergeberin Hansine entgegen allen Beteuerungen als Asiatin und nicht als Österreicherin klassifiziert wird. Fremdsein, wie es die Reisende erfährt, bürgt unterwegs gewiß für überraschende Begegnungen und lässt sich temporär leicht ertragen. Als dominierendes Lebensgefühl der Mischlinge und Entwurzelten wird es, zumal im postkolonialen Raum, zur existenziellen Bürde, wie die Autorin überzeugend ausführt.

Der Jagdgründe der Ahnen und der daraus resultierenden Lebensform beraubt, haben sich viele Grönländer in Drogenkonsum und Alkoholismus geflüchtet. Unfähig, im Ausland Fuß zu fassen, aber auch unfähig, auf der Insel eine sinnvolle Beschäftigung zu finden, driften sie in ein Vakuum, das nur die ganz wenigen Intellektuellen und Künstler sinnstiftend zu füllen vermögen. Kim trifft einige davon während ihres Aufenthaltes. So etwa die Fotografin und Künstlerin Julie, die von ihrer Kindheit in geteilten Schulklassen berichtet, oder die Psychologin Amalie, die in Dänemark zum ersten Mal Bäume sah und ihrem Schatten misstraute, oder die „die falsche Grönländerin“ Karen, die von einem dänischen Ehepaar adoptiert wurde und an der in der Schule Merkmale der mongoliden Rasse studiert wurden. „Schönheit ist ein europäisches Monopol“, notiert die Autorin bitter und meint damit die unüberwindliche Barriere der Alterität, die sich letztlich auf die Physiognomik und die Tönung der Haut reduziert.

Kims Invasionen des Privaten erzählen die Geschichte der Grönländer aus der Knecht-Perspektive und geraten solcherart zur Reise zu sich selbst, auf der sich das eigene Fremde im Fremdsein der Anderen ein Territorium der Freiheit erobert. Stilsicher und bisweilen metaphorisch unterlegt präsentiert sich dieser Reisebericht als ethnografisches Dokument, aus dem sich die Problematik des Selbst in der oft beschworenen multikulturellen Gesellschaft konsequent entwickelt. Soll Assimilation auf humane Weise gelingen, so der luzide Befund, darf es folglich nicht heißen: „Wer darf ich sein?„, sondern „Wer bin ich?“ Es ist freilich nicht sicher, dass hier die Antwort leichter fällt.

Anna Kim Invasionen des Privaten
Essay.
Graz, Wien: Droschl, 2011.
112 S.; brosch.

ISBN 978-3-85420-781-8.

Rezension vom 15.02.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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