Die Textauswahl für das dazugehörige Lesebuch entspricht nicht genau der Auswahl der Salzburger Lektüren; der Sammelband ist also auch insofern mehr als das „Buch zum Event“. Er enthält Texte, die wegen ihrer visuellen Dimension für die Präsentation in Salzburg nicht geeignet sind, und er enthält vor allem Texte, die sich nicht in einem Vorgetragenbekommen erschließen, sondern die wieder und wieder durch aktive, engagierte Rezeption erarbeitet und angeeignet werden können.
Vier Abschnitte Jelineks Wahl werden jeweils durch einen einführenden Beitrag der Autorin eingeleitet; der Band klingt aus mit der unkommentierten „Reise durch Jelineks Kopf“. Zu Wort kommen zunächst Friedrich Glauser und Robert Walser, die Lyriker Trakl, Hölderlin und Herbeck in Verbindung mit einem poetologischen Einwurf Werner Schwabs. Der dritte Teil macht die Stimmen der „wortlosen“ Autoren hörbar und im vierten Teil schließt sich eine Spange von Unica Zürn und Sylvia Plath um Konrad Bayer und Walter Serner.
Aus dem vollen schöpfen die Herausgeberinnen für den fünften und letzten Abschnitt, die „Reise durch Jelineks Kopf“. Stationen dieses Unterwegsseins („Nicht bei sich und doch zu Hause“) sind zum Beispiel Elfriede Gerstl, der das zitierte Motto über Fremdheit, Entfremdung und Identität entlehnt ist, Anselm Glück, Wolf Haas oder Sissi Tax. Immer wieder entstehen Bezüge zu den vorigen „Wahlen“: Bäckers „Nachschrift“ verweist auf den Abschnitt der „wortlosen“ KZ-Überlebenden, Neda Beis Anagramme lassen Unica Zürns Letternkehren erinnern, und Martin Heidegger, dessen Trakl- und Hölderlininterpretationen, aber auch seine Rektoratsrede in Jelineks Ausführungen gegenwärtig sind, wird in der einmaligen palindromischen Parodie „Eine Gehung“ (S. 276) von Brigitta Falkner auf eine etwas andere Reise durch einen etwas anderen Kopf geschickt.
Die Vernetzung im Kopf (des Lesers) läßt Raum für weitere „Links“ in alle Himmelsrichtungen. Von Sylvia Plath führt die Lektüre zu Anne Sexton, von Unica Zürn zu Hermann Melville und Henri Michaux, von Walter Serner zu Kurt Schwitters, von Brigitta Falkner zu Oskar Pastior, von Elfriede Gerstl zu Raymond Federman, und von diesen weiter und weiter. So schreiben sich Literaturgeschichten, die sich behaupten können, die in Konsequenz zu einer Kanonrevision führen.
Doch geht es in dieser Zusammenstellung von Texten nicht darum, einzelnen Autor/innen oder Werken ein Jelineksches „Gütesiegel“ zu verpassen. Wenn der Klappentext des Bandes gerne hätte, die Kombination des Textmaterials erfolge „in überraschenden Konstellationen“, stimmt das so nicht ganz. Sehr genau wird anhand der Auswahl deutlich, daß es sich um keine wie auch immer zufällige oder willkürliche Kür um des schnellen Überraschungs- oder eines anderen Effektes willen handelt; staunen läßt vielleicht auf den ersten Blick am ehesten ein Textausschnitt aus dem Kriminalroman eines jungen, erfolgreichen Österreichers, ein Ausschnitt, der nicht so ganz in das Bild der einen Sub- und Gegenkanon formierenden Texte zu passen scheint.
Doch sobald man daran geht, der Verbindung zwischen den Texten nachzuspüren, dem gemeinsamen Nenner, der die Mischung zusammenhält, wird klar, daß auch „der süße Tod“ nicht von ungefähr in dieser dichten und bei aller Interferenz von Tod, Qual und Gewalt höchst vitalen Auswahl von Literatur seinen Platz hat. Die von Elfriede Jelinek programmatisch und bewußt ‚genannten‘ Texte – „gewählt“ hat sie sie ja nicht erst für dieses Projekt, sondern sie in ihrer den eigenen Schaffens- und Entwicklungsprozeß begleitenden und prägenden Lektüre erlesen – verbindet als Kriterium jenes Phänomen, das Deleuze/Guattari in ihrer wegweisenden Arbeit über Kafka mit dem Terminus „littérature mineure“ bezeichnet haben.
„Littérature mineure“ nach Deleuze/Guattari zeichnet aus, daß in ihr „Deterritorialisierung der Sprache, Koppelung des Individuellen ans Politische, kollektive Aussageverkettung“ stattfindet. – „Dazu ist erst einmal der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die eigene Dritte Welt, die eigene Wüste“, schreiben Deleuze/Guattari und bezeichnen damit das, was Jelinek formuliert, wenn sie von den Schreibenden spricht, die „fremd bleiben, auch sich selbst fremd, Verstörte“ (S. 14).
Die Krankgeschriebenen der Gesellschaft wie Friedrich Glauser, Robert Walser oder der Gugginger Künstler Ernst Herbeck („Alexander“), die als „Wahnsinns Frauen“ zusammengefaßten Sylvia Plath und Unica Zürn, die von verschiedenen Seiten Überlebenden Elfriede Gerstl und Heimrad Bäcker und der völlig unbekannte Binjamin Wilkomirski, der exzessive Werner Schwab und der leise Paul Celan treffen sich alle im Verstoß gegen oder Verstoßensein aus (sozialen) Normen.
Im Mittelpunkt stehen jedoch nicht die Schicksale dieser geistigen Verbündeten Jelineks, sondern deren Arbeit, denn es handelt sich um Menschen, die „besessen sind von der Präzision des Ausdrucks, als wollten sie sich bis zuletzt an etwas festhalten“ (S. 14). „Kranke“ Texte kommen in dieser Auswahl zu Wort; aber auch „mindere“ Gattungen und Formen wie der immer im Nimbus von Schund stehende Kriminalroman oder das als mechanische Spielerei belächelte Anagramm finden Aufnahme in Elfriede Jelineks Sammlung der Großen der „kleinen Literatur“.
Was Elfriede Jelinek in dieser Anthologie, diesem Kompendium nicht nur, aber auch österreichischer Literatur betreibt, ist literarischer Lobbyismus im besten Sinne des Wortes. Die umworbene „Skandalautorin“ unterwandert das System Salzburg; sie nutzt ihre privilegierte Stellung, zu der sie selbst ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis hat, um dem „literarischen Publikum“ entgegenzuhalten, was Sache ist, was Text ist, was unerhört gute Literatur.