Gerhard Jaschkes Geliehene Leben versammeln nüchterne Beobachtungen und ehrliche Betrachtungen eines Ichs, das – mit Bedacht auf den körperlichen Verfall – unentwegtes Notieren von Einfällen und Vorgefundenem sowie die tägliche sprachakrobatische Praxis am Weiter-Leben halten. Deshalb stehen Sätze wie der folgende im Buch: „Der inkontinente achtzigprozentig Behinderte wird doch wohl nicht auf Freiers Füßen sein?“ (S. 88)
In der Rückschau blitzen vertane Lebenschancen auf, der Vater, steht geschrieben, sei ein angesehener Rechtsanwalt gewesen, er sei es nicht. Die Gegenwart offenbart Niederlagen durch bürokratische oder bauliche Barrieren und Missstände in der Krankenversorgung, daneben Ignoranz allerorts, ausbleibende Anerkennung der künstlerischen Leistung zumal. „ABGESPEIST mit geradezu demütigenden Überbrückungshilfen, einmaligen Zuschüssen, die das Kraut nicht fett machen…“ (S. 5)
Dieser augenscheinlichen Fülle an Entmutigendem begegnet der Autor mit einer Extra-Dosis an Esprit, hintergründigem Klamauk und Selbstironie. „Mit Schalk im Nacken entsetzlich große Scheiße kacken.“ (S. 7) Die unschön formulierte Reim-Resignation mildert, dass auf jeden Satz ein weiterer folgt, jedem Wort ein nächstes entspringt. Die Un-Logik spontaner Dichtung entpuppt sich als Pharmakon gegen das Unvermeidbare, wie auch das anagrammatische Festhalten der Buchstaben Verschwinden und Verlust abzuwehren versucht.
Vor allem aber ist es Gerhard Jaschkes grenzenlose Begeisterung für das Eigenständige und Innovative in der Kunst und Literatur, das ihm und seinen Lesern Glücks-Momente beschert. Nicht zuletzt sprudeln die „Geliehene[n] Leben“ als inspirierende Quelle zur Erinnerung an die Vielfalt und das Lebensgefühl der „Neo-Avantgarden“ seit den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, zu deren Vermittlung der Autor und Herausgeber Gerhard Jaschke Wesentliches beigetragen hat. Er war, wie man aus der Kürzestvita im Buch erfährt, und als interessierter Zeitzeuge beziehungsweise -genosse ohnehin weiß, Herausgeber der feinen Zeitschrift „Freibord“ und fast ein Vierteljahrhundert Dozent für Literaturgeschichte an der Akademie der bildenden Künste Wien. Er selbst formuliert es so: „Ich und Witwer, zu 80% behindert, Pensionist – und war doch erst gestern Schüler, Student, Literat, Zeitschriftenherausgeber, Rundfunkmitarbeiter, Lehrbeauftragter und was weiß ich noch alles. Wie viele Ichs verträgt eigentlich so ein ICH?“ (S. 7) Und die letzte ist bei multiplen Talenten tatsächlich die entscheidende Frage.
Gerhard Jaschke gehört zu denen, die es wissen: „Das eigentlich Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit“, was er – sympathischer Weise – mit einem Versicherungsjuristen namens Franz Kafka sagt. (S. 117)
Das Charakteristische der „Nachsätze“ Gerhard Jaschkes ist, dass man sie – von der ersten bis zur letzten Seite – lesen kann wie einen Entwicklungsroman. Es ist ein entastetes Buch ohne Dickicht und Gestrüpp. Es sind Nachsätze mit nachhaltigen Wirkungen. (Siehe S. 95f) Ein Zwischenergebnis, zumal Gerhard Jaschke weiter notieren und schreiben wird. Er wird auch weiter die Gegenposition zu den sogenannten ersten Sätzen jener einnehmen, die in der ersten Reihe stehen. Und letztlich bleibt alles, wie er als geschulter beziehungsweise passionierter Dichter weiß, nur eine Zwischenbilanz, ein Zwischenfall, ein Zwischenruf. Ein Zwitschern.