#Anthologie

aus dem wirklichen Leben

Ernst Jandl

// Rezension von Barbara Angelberger

Aus Jandls Gesamtwerk jene Texte herauszufiltern, in denen Biographisches, d. h. das Autoren-Ich festzumachen ist, ist erklärtes Ziel dieser Sammlung. Gedicht und Prosa finden sich darin, dazu noch eine Prise Dramatisches, z. B. die im Titel anklingenden „szenen aus dem wirklichen leben“. Dabei handelt es sich um eine Textcollage, die vor allem aus Gedichten aus „Laut und Luise“ (letzterer übrigens der Vorname von Jandls Mutter) besteht. Wollte der Titel 1966 noch auf die autonome Wirklichkeit der Sprache anspielen, wird er hier vereinfacht und ohne großes Aufhebens auf das Dichterleben bezogen.

Aus „Laut und Luise“, der Sammlung mit der sich die experimentelle Schreibweise langsam durchzusetzen begann, stammen auch die ersten Gedichte des vorliegenden Bandes: „lichtung“ („Manche meinen/lechts und rinks/kann man nicht/verwechsern. /werch ein illtum!“) und „ottos mops“. Mit ihnen hat der ehemalige AHS Lehrer (Anglistik/Germanistik) wieder in die Schule zurückgefunden – direkt in die Lesebücher hinein. In diesen beiden Gedichten Biographisches auszumachen, ist freilich schwer möglich.

Nicht immer nachvollziehbar ist auch die Reihung der Gedichte. Thematische Blöcke werden öfter durchbrochen. Nach den Themenkomplexen Kindheit-Mutter, Krieg, Faschismus finden wir den Lesebuchklassiker „die tassen“ („bette stellen sie die tassen auf den tesch“), erst danach das dichtungsprogrammatische Gedicht „zeichen“.

Dafür werden im Inhaltsverzeichnis die Entstehungsdaten der Gedichte genannt, was dem/r interessierten Leser/in ermöglicht, Entwicklungen in Jandls Werk in ihrer Chronologie nachträglich fassbar zu machen. Der Bogen spannt sich von frühen Gedichten in gebundener Sprache über die Lautgedichte, Gedichte in beschädigter Sprache, in der dann ab Ende der 70er Jahre, nach langer Zeit der Ich-Abstinenz, ein beschädigtes Subjekt zu sprechen beginnt, bis hin zu solchen in englischer Sprache.

Gemeinsam ist allen Gedichten/Texten die Missachtung des Hohen und des Erhabenen, das kein Leiden kennt außer das behübschte, das keines mehr ist. Jandl dichtet aus dem Defizit heraus, aus dem Mangel und dem Schmerz. Beides hat der eigene Lebensweg ausreichend zur Verfügung gestellt. Die Mutter war streng. („wer sein kind liebt, der züchtigt es“// ich weiß, ich habe gelogen/du hast gelogen!/nein, mama, ich hab nicht gelogen/die hände runter, die wange her/nein, mama, ich hab nicht gelogen/runter die hände, die wange her/nein, mama!//so wurde ich erzogen). Unheilbar an Muskelschwäche leidend, flüchtete sie sich ins unerbittlich Religiöse. Sie starb, als Jandl 14 war.
Es folgten Nationalsozialismus, die Zeit als Soldat, Kriegsgefangenschaft, Rückkehr nach Wien. Lehrberuf und das Glück Friederike Mayröcker zu treffen: „[…] wir sind bis heute eng verbunden, aber wir leben nicht mitsammen, denn ich verstand es nicht, etwas an glück dauerhaft zu machen […]“.

Dabei immer das Schreiben, die Lebenspflicht: „kommentar//daß niemals/er schreiben werde/ seine autobiographie//daß ihm sein leben/viel zu sehr/als dreck erscheine//daß auch nur wenige punkte, blutige/er noch erinnere//daß aber niemals/er zögern werde/in den dreck zu fassen//um herauszuziehen/was vielleicht/einen stoff abgäbe//für poesie/seinen widerlichen/lebenszweck“.

Jandls Dichtung erschließt sich auch ohne biographisches Hintergrundwissen. Seine Geradlinigkeit aber, die eben auch poetologisches Konzept ist („denn in dem, was man zu sagen hat, gibt es keine alternative“), zeigt sich besonders deutlich auch im Umgang mit der eigenen Vergangenheit, die mit zunehmendem Alter einen immer wichtigeren Platz in seinem Schaffen einnimmt. Allein schon deshalb sollte man sich fürs erste an den vorliegenden Band halten.

Ernst Jandl aus dem wirklichen Leben
gedichte und prosa.
München: Luchterhand, 1999.
181 S.; geb.
ISBN 3-630-87041-4.

Rezension vom 14.01.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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