Damit enden allerdings auch schon die sprachlichen Gemeinsamkeiten mit Jäckls bisherigen Schaffensschwerpunkten – ihr sonst überaus artifiziell und experimentell gestalteter Tonfall weicht in estoy durmiendo einem eher konventionellen, mitunter gar flapsig-poppigen Stil.
Die unverhofft zu finanzieller Unabhängigkeit gekommene ehemalige „Wurmfischerin“ Nico wandert von Berlin nach Ecuador aus und zieht dort mit ihrer Jugendliebe Jànos durch die Wildnis, um einen sagenumwobenen Kolibri zu finden, der als künftiges Allheilmittel der Kosmetikindustrie gilt und den Biochemiker im Auftrag eines fiktiven deutschen Schönheitskonzerns zurück in die Arme seiner Verflossenen spült. Diese Suche nach dem unheiligen Gral wird zum Dreh- und Angelpunkt einer ganzen Reihe skurriler erzählerischer Einsprengsel und Nebenereignisse, die sich in einen grellbunten Flickenteppich aus Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik, Schelmenroman, Drehbuch mit schnellen Schnitten, Traumsequenzen und Rauscherlebnissen auflöst und den Leser auf eine literarische Achterbahn setzt, bei deren Geschwindigkeit und ungeahnten Richtungswechseln ihm mitunter Hören und Sehen vergeht. Am Schluss hat sich die Welt selbst nachhaltig verwandelt, das alte Europa fällt Gammablitz und Cyberwar zum Opfer, aber ob das alles nun wirklich oder nur in den Wahnvorstellungen der handelnden Personen geschieht, bleibt letztlich offen. Und überhaupt ist das alles gar nicht so schlimm, wie Jànos sagt, „passiert ist passiert. Es gibt keinen Weltuntergang, nur veränderte Bedingungen.“ (S.273).
Ein wenig fühlt man sich konzeptionell an Herbert Rosendorfers Roman „Der Ruinenbaumeister“ von 1969 erinnert, zu einer Zeit geschrieben, als Jäckl, Baujahr 1978, noch gar nicht geboren war; den sehr ironisch-feinen – rückblickend möchte man durchaus sagen konservativen – Unterton Rosendorfers ersetzt allerdings die jäcklsche, mit Pop- und Trashelementen sympathisierende Ausdruckswelt, die freilich auch immer wieder zu poetischen Formulierungen findet, die man einzeln als Bonmots twittern könnte: „Ich suchte im körpereigenen Thesaurus nach Übersetzungen meiner Gefühle und fand: ‚In diesen Muscheln: Perlen.‘ “ (S.33).
Der Aufbau des Romans, der, wie schon festgestellt, nur bedingt einer ist, vollzieht sich in drei Haupttextgruppen: da ist zum einen der eigentliche Erzählstrang, der ohne Kapiteleinteilung über mehr als dreihundert Seiten führt; zum anderen immer wiederkehrende, grafisch vom restlichen Text abgesetzte Passagen mit kurzen Dialogen, die für sich allein genommen den Weg eines einzelnen Exemplars von „estoy durmiendo“ durch die Hände mehrerer Lesender und Personen ihres jeweiligen Umfeldes über einen langen Zeitraum hinweg dokumentieren; und drittens bedient sich das Buch fast schon exzessiv der Verwendung von Fußnoten, die teilweise selbst als Ich zum Leser sprechen. „Haben Sie vor mir schon mal eine Fußnote auf dem Backcover gesehen?“, fragt gar eine von ihnen süffisant auf dem Rücktitel.
Diese Fußnoten geben dem Buch aber meist tatsächlich das, was man von ihnen gemeinhin erwartet: nämlich einen Haupttext mit wichtigen, zusätzlichen Informationen zu ergänzen. Die eingesetzte Häufigkeit dieser Anmerkungen (es sind im Ganzen über einhundertsiebzig) lässt „estoy durmiendo“ passagenweise auch zu einem Sachbuch mutieren, in dem Lilly Jäckl Unglaubliches aus der Welt der neoliberal entfesselten Konzernstrukturen und ihrer verheerenden Auswirkungen auf Natur und Gesellschaft dokumentiert, alles mit peniblen Quellenangaben aus Printwerken und Internet, wie es sich gehört. Außerdem leisten die Fußnoten umfangreiche Übersetzungsarbeit aus zahlreichen, auch exotischen Fremdsprachen, in denen kleinere Passagen des Haupttextes abgefasst sind.
Doch ist Lilly Jäckls neues Buch mehr als die bloße Summe seiner Einzelteile: durch die Dreiteilung des Textes entsteht eine Gegenstruktur zu den normalen Lesegewohnheiten, und wer sich ihr vorbehaltlos anvertraut, wird von der Autorin relativ spursicher durch das scheinbare Labyrinth von Anekdoten und Nebenhandlungen, gesellschaftlichen Problembeschreibungen und Politikerportraits (sehr gelungen: das des deutschen Ex-Entwicklungshilfeministers und heutigen Rüstungslobbyisten Dirk Niebel), Naturschauspielen und schrulligen Charakteren geführt. Man könnte argumentieren, dass dieses Unterfangen der Autorin eigentlich von Anfang an aus den Händen zu gleiten droht, so ausufernd und vom Hundertsten ins Tausendste mündend mutet dieser Quilt aus Themen und Personen an. Beinahe meint man Fritz Muliar selig im Hinterkopf zu hören: „…damit ich nicht vergess‘, Ihnen zu erzähl‘n“.
Aber Jäckl münzt dieses scheinbare Manko in ein konsequent genutztes Stilmittel um und schwingt sich folgerichtig immer wieder in den erzählerischen Sattel. Und doch scheint sich die Schriftstellerin trotz der erzählten ausufernden Vielfalt des eigenen Schreibtrieb-Dilemmas bewusst zu sein, wenn sie eine der Personen in schönstem Berlinerisch sagen lässt: „Allet is doch schon jesagt, jedacht, jeschrieben, erzählt, wiedererzählt, aufjezeichnet, neu entdeckt, verjessen, neu erfunden und beschrieben worden und dennoch. Dennoch. Verstehste?“ (S.245).
Dennoch also! Vergessen Sie die Handlung, wie in allen guten Romanen geht es auch bei „estoy durmiendo – ich schlafe gerade“ nicht so sehr um das „Was“, sondern um das „Wie“. Ein Buch wie eine halluzinogene Droge. Tun Sie Ihrer Gesundheit etwas Gutes, rauchen Sie keine Fliegenpilze, lesen Sie stattdessen die Literaturschamanin Lilly Jäckl.