Dabei ist die Konstruktion dieses Lebensromans zwar ausgefallen bis skurril, aber doch nicht zur Gänze ein Unikat. Der Ire Mairtin O’Cadhain ließ schon 1949 in seinem Roman „Cré na Cille“ – ins Englische gleich zweimal übertragen, 2015 als „The Dirty Dust“ und 2016 als „Graveyard Clay“; die deutsche Ausgabe erschien 2017 unter dem Titel „Grabgeflüster“ – die Toten eines Friedhofs miteinander palavern. Und Laurence Sterne, der Autor des 18. Jahrhunderts und Urvater so ziemlich aller modernistisch-avancierten Romane, von Joyces „Finnegans Wake“ bis zu Italo Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“, ließ dereinst seinen Tristram Shandy in hemmungsloser Abschweifungswut drauflos schwadronieren, dabei kommt Sternes Erzähl-Held erst knapp vor der Hälfte des umfangreichen Romans zur Welt, ist also über längere Zeit ein Ungeborener, der die Welt kommentiert (was vor einigen Jahren Ian McEwan mit „Nussschale“ ziemlich unverstellt zitierte).
Niko Hofingers Protagonist ist ein Mann, der zweimal lebte und zweimal starb. Als Emmanuel „Manek“ Willner kam er zur Welt, in Galizien; 1915 floh seine Familie aus der hochumkämpften Region, über die immer wieder Frontverläufe zerstörerisch hin- und herfluteten, nach Wien. Als Ernst Beschinsky wurde er beigesetzt, in Innsbruck. Wobei eine österreichische Behörde umgehend monierte, dass der Name auf dem Grabstein auf der Grundlage vorliegender Dokumente eigentlich „Bechinsky“ hätte geschrieben werden müssen.
Glasergasse 14 im neunten Wiener Gemeindebezirk, hier wuchs Manek auf, hier wohnte er von 1923 bis 1938 in der Wohnung seiner Familie. Seine zwei besten Freunde wohnten schräg gegenüber. So wie sie schlug er sich im Wien Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre durch, mit Chuzpe, Flausen und Träumen, aber ohne Geld. Über Wasser hielt er sich durch Kleinhandel mit Lebensmitteln. 1934 lernte er eine lebenslustige, optimistische Frau aus Hall in Tirol kennen und lieben, Ilse Focke, geschieden und mit einem fünfjährigen Sohn aus der gescheiterten Ehe mit einem Apotheker. Sie sollten die nächsten vier Jahrzehnte zusammen bleiben.
1938 floh er. Und legte sich eine neue Identität zu, die eines in der Nachbarschaft wohnenden jüdischen Wieners, der seit 1930 in Palästina lebte. Wieso? „Der neue Name Ernst Beschinsky war ja vorerst nur meine Absicherung, mein Schritt voraus gegen die meinem Lebensweg blindwütig nachstürmenden Nazis. Hätte sich die Geschichte anders entwickelt, wäre ich auch gern Manek Willner geblieben, als der ich jetzt einmal nach Prag zurückgekehrt war.“ Sein Vater musste, weil noch immer polnischer Staatsbürger, nach Krakau zurückkehren, Mutter und Schwestern schlugen sich nach Frankreich durch, wo sie den Zweiten Weltkrieg überlebten, er selbst ging erst nach Prag, dann nach Zagreb. Als 1940 die Deutschen auch dort einmarschierten, tauchte er ab, wurde „U-Boot“ in einer Wohnung, deren Hauptmieterin seine Frau war, die auf Grund ihrer Sprachbegabung in Zagreb eine Stelle als Fremdsprachenkorrespondentin ergattert hatte. Vier Jahre lebten sie in dieser stets gefährlichen Konstellation. Einmal überstand Manek/Ernst eine Razzia nur, weil er eine Nacht in einem Kasten auf dem Balkon verbrachte, begraben unter Decken.
Nach 1945 blieben er und seine Frau in Zagreb, er war im Lauf der nächsten Jahre ziemlich erfolgreich im Import-Export tätig, damals ein Synonym für Schwarzhandel mit begehrten Waren aus dem Westen. 1947 wurde er denunziert, bei ihm hätte eine Deutsche genächtigt, in Titos Jugoslawien ein scharfer Vorwurf. Und tatsächlich hatte er auf die Bitte von Freunden hin eine Frau bei sich nächtigen lassen. Er kannte sie nicht, er wusste nicht, dass es die Frau des gesuchten und berüchtigten Gestapo-Mannes Günther Hermann war. Hofinger kontrastiert durchaus elegant Beschinskys Leben mit Hermanns „Karriere“ bei SA, SS und Gestapo, er war einer der blutrünstigsten Kommandeure von Massakern an Juden in Mittel- und Osteuropa.
Beschinsky und Ilse wurden verurteilt, er saß zwei Jahre in einer Anstalt ab, musste 1950 Jugoslawien verlassen. Ilse und er kehrten zu ihrer Familie nach Hall in Tirol zurück. Während sie mit ihrem heiteren Gemüt sich wieder sehr schnell einlebte, hatte Beschinsky Anlaufschwierigkeiten, fand weder richtige Beschäftigung, noch – eine größere psychische Last für ihn – verdiente er Geld. Ab 1952 engagierte er sich in der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg in Innsbruck und stieg wieder in den Handel ein. Nachdem er sich als miserabler Autofahrer erwiesen hatte, chauffierte ihn Ilse überall hin. Sie verdienten zusehends besser, verfügten über ein solides Auskommen. Schließlich siedelten sie nach Innsbruck über, er wurde 1976 zum Präsidenten der IKG gewählt, wenige Monate später starb Ilse infolge eines Herzinfarkts, er wirkte durchaus mit Erfolg und guter lokalpolitischer Vernetzung für die Gemeinde. Ende Mai 1987 starb auch er. Als Grabrede wurde Ernst Beschinskys Leben rekapituliert, freilich sein falsches.
Hofinger stieß durch Dreharbeiten eines israelischen Dokumentarfilmers auf diese Causa. Dieser wollte die Geschichte seines Großvaters Ernst Beschinsky rekonstruieren. Und stieß auf den Umstand, dass es zwei Männer des selben Namens gab. Der eine, sein Großvater, war 1969 in Israel verstorben; der andere, der ihm unbekannt war, lebte und starb in Tirol. Welcher war der richtige, welcher ein Lügner, Betrüger und Hochstapler?
Wäre es keine wahre Geschichte, würde man dies tatsächlich glauben? Wer hätte schon gewagt, solches derartig waghalsig und pittoresk zu „erfinden“?
Mit Verve und großer Leichtigkeit erzählt Hofinger diese Geschichte eines Schlemihls. Am Ende geht es einem dann wie dem Autor, der im Buch nur als „der Historiker“ aufscheint: Diesen Ernst Beschinsky alias Manek kann man weder verurteilen noch ihm gram sein. Denn es ist zwar ein Lügenrätsel, doch Hofinger stellt seinen Protagonisten nicht bloß, er denunziert ihn nicht, er stellt ihn, seine Ambivalenzen und seine doppelsinnigen Listen – eine lange Auflistung im Buch schildert ein ganzes Familienleben, eine noch viel längere die Zagreber „Handels“-Bestände – nicht an den Pranger.
Zum Glück und für unser Leseglück.