Caretta Caretta ist der einstweilige Höhepunkt von Hochgatteres Ärzteprosa; hier hat der Autor, ohne wirklich rührselig zu werden, ein emotionales Verhältnis zu seiner Hauptfigur gewonnen. Dabei geht das Buch nicht in die Fallgrube sozialkritischen Schreibens, es hält sich von moralischen Wertungen ebenso frei wie von aufdringlichen Appellen an unser aller Gutmenschentum. Und tatsächlich: Je weniger der mahnenden Zeigefinger ausgefahren wird, umso augenfälliger gewinnt umgekehrt die Lebenswelt des Buben Kontur. Daß diese Welt nicht ganz authentisch ist, verdankt sich der Tatsache, daß Hochgatterer in sie wohl auch Teile der eigenen Jugenderinnerungen gelegt hat. Dominik scheint kein reiner Exponent der Neunziger Jahre zu sein, aus der Tiefe der Zeit wehen ihn anachronistische Töne an; die rauhe Stimme von Tom Waits beispielsweise, dessen Song „In the neighborhood“ Dominik jederzeit nachzusingen vermag. Ein Lied, das man dieser Tage vielleicht nicht unbedingt auf den Lippen eines deklassierten Jugendlichen erwartet, das aber ganz gut dorthin paßt: „Friday’s a funeral / and Saturday’s a bride / Sey’s got a pistol on the register side“.
Eine Pistole hat zur Selbstverteidigung auch Dominik eingesteckt, wie ein kleiner Reservepolizist, eine Miniaturausgabe von Harvey Keitel fast, durchstreift er die Stadt. Am Schwedenplatz kauft er, wie er sicher zu wissen glaubt, das beste Eis Wiens, einige hundert Schritte später stampft er die Tüte zu Bröseln, weil er sich das irgendwann einmal angewöhnt hat. In der Buchhandlung Morawa fragt Dominik nach dem neuesten Calvin & Hobbes Album, der Typ hinter dem Verkaufspult erklärt ihm, daß dieses wohl für längere Zeit das letzte sei. Knapp vor der Kassa schlägt Dominik das Heft auf: Calvin sitzt neben Hobbes unter einem Baum und sagt: „Wenn Vögel rülpsen, schmeckt das bestimmt nach Insekten“ – solche Sätze machen den Buben unbesiegbar.
Was für Dominik neben den paar Briefchen täglicher Drogen, mit denen er dealt, ansonsten noch Wert besitzt, läßt sich an zwei Fingern abzählen: Frauen und Fußball. Als Flaneur des ersten Wiener Gemeindebezirkes bringt der junge Mann auch den entsprechenden Marken-Blick mit: Hugo Boss und Ralph Lauren identifiziert er aus weiter Entfernung, unter zartem Stoff bleibt ihm kein Push-Up verborgen. Als der eigentlich rote Faden zieht sich die Fußball-Weltmeisterschaft durch den Text, über das Endspiel Frankreich gegen Brasilien weiß in der Stadt wirklich jeder Bescheid, der Name manch eines Spielers wird trotzdem zum Schibboleth. Einer der Streetworker spricht „Zinedine Zidane“ flüssig und richtig aus, damit hat er bei den Straßenjungs auch schon gewonnen.
Freilich spielen wie in den früheren Büchern Hochgatteres auch in der Geschichte von Dominik Krankheiten eine Rolle. Einmal zeigen sich auf seinem Hinterteil seltsame Pusteln, was aber weniger als medizinisches Phänomen, sondern eher in pekuniärer Hinsicht interessant ist. Seltsamerweise wirken sich die Flecken nämlich überhaupt nicht geschäftsschädigend aus, ganz im Gegenteil scheint der Ausschlag so manch einem Freier auch noch zu gefallen. An einer wirklich todbringenden Krankheit leidet in „Caretta Caretta“ ein älterer Herr namens Kossitzky, auch er eine Art „guter Onkel“ für Dominik. Ein weizenblonder Oberarzt mit einer Intellektuellenbrille (ein Mann also, der aussieht als wäre er dem Autor aus dem Gesicht geschnitten) unterrichtet Kossitzky, was es mit seinem „Hypernephrom“ auf sich hat. Unter dem Mikroskop hätte er große, wasserhelle Zellen gesehen – ein inoperabler Nierenkrebs, über den der Arzt glattweg in eine „wasserhelle Intellektuelleneuphorie“ fällt: der Tumor groß wie zwei Fäuste, Metastasen überall, an Lunge, Leber, Bauchfell und Hirn.
Die ihm verbleibende Zeit beschließt Kossitzky nicht in irgendwelchen Computer- und Kernspinotographen, sondern außerhalb des Krankenhauses zu verbringen, wozu Dominik auch sofort die passende Idee hat. Sie sollten sich auf die Suche nach caretta caretta machen, also der unechten Karettschildkröte, und zwar sollten sie das gemeinsam mit jenem Mädchen tun, das ihm knapp vorher die Besonderheit dieses Tieres erklärt hat. Der Karettschildkröte müsse man unbedingt einmal ins Auge gesehen haben, weil sie das einzige Reptil sei, das manchmal weint.
Auch wenn dieses sanfte Pharmakon für den alten krebskranken Mann zu spät kommt, und ihm auch scilla maritima, die Meereszwiebel, die er, unmittelbar bevor er stirbt, an einem türkischen Strand ausgräbt, nicht mehr hilft, besteht zumindest für Dominik die Hoffnung auf ein inneres Mittelmeer. Auf dem Schiff, das vor der Bucht ankert, wartet Isabella – ein Ende, wie es schöner nicht sein kann, was natürlich auch der Autor weiß: „Manchmal im Leben paßt nur der ärgste Kitsch.“