Als Tochter von den Ansprüchen der engherzig katholischen Mutter erdrückt und vom freigeistigen, aber auch feigen Vater allein gelassen, übt diese Frau früh Selbstbestimmung. Doch diese Übung scheint nur bis zur Ehe so einigermaßen zu gelingen. Man wähle die Passivform, um die Grundbefindlichkeit zu verstehen: Sie wurde geehelicht. Sie selbst hätte einen anderen gewählt. Doch dieser schüchterne und geradezu träge Mann namens Gerd antwortet auch fünfzig Jahre nach dem so redseligen Schweigen, das die beiden unerfüllt Liebenden umgibt wie ein bedrückendes Gelübde, nicht auf den abgeschickten Brief, der dieses Versäumnis benennt. So als wäre damit bestätigt, dass dieser in der Vorstellung Geliebte nie in der Wirklichkeit einen Platz an ihrer Seite hätte einnehmen können. Und ist es nicht ein Vorrecht der Unglücklichen, dass sie sich einen an ihre Seite erträumen ein Leben lang? Denn das zeigt dieser Text, für das Unglück durch enge Verhältnisse ist gesorgt.
Einen Platz einnehmen wollen einige Kandidaten, doch diese Frau weiß um die Vorzüge körperlicher Unnahbarkeit, spürt wie leicht die freie Gestaltung des Lebens aufgekündigt ist, gäbe sie dem Drängen der Männer nur nach. Wolfgang Hermann gelingt das Kunststück, ein warmherziges Porträt seiner Mutter zu skizzieren, ohne sich mit betulicher Tonalität zu verirren im Anspruch, biografische Zuverlässigkeit zu gestalten. Die Intimität entsteht mit klug gewählten Passagen. Manchmal wird in Besprechungen das Attribut „ökonomisch“ verwendet, um die schriftstellerische Leistung zu würdigen, dass hier jemand mit gezielten Federstrichen eine ganze Generation, eine Epoche, eine Zeit entwirft, die episch wirkt, wo sie doch szenisch gestaltet ist. Mit genau diesen sparsamen Mitteln – einem peinlichen Vorsingen anlässlich eines NS-Festes, dem Aufbrechen in die große weite Welt, die München ist, und später etwa dem Retten des heillos verschuldeten familiären Schreinerbetriebs – fädelt Hermann Stationen einer Biografie auf, die exemplarisch erscheint für Vorarlberg in den Jahren zwischen 1920 und 1970.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil entstand 1994, der zweite 2022. Der Autor bekennt, dass er seine Betrachtungen erst jetzt veröffentlichen könne. „Nach dem Tod eines geliebten Menschen schießt sein Leben wie in Kristall geschlossen zusammen, wird durchsichtig, wir sehen klarer, wer er war – möglicherweise.”
Was klarer zu sehen ist, sind nicht nur die Versäumnisse. Etwa das Verlangen zu singen und auch Theater zu spielen. Beides bleibt ein Privatvergnügen, obwohl der Wille deutlich ist, darin eine Karriere zu entfalten. Mit der Heirat und den rasch aufeinander folgenden Schwangerschaften rücken diese Wünsche mehr und mehr in den Hintergrund. Die Distanz des Autors zur Hauptfigur ist sicherlich eine umso größere Herausforderung, je mehr das eigene Leben mit ihr verstrickt ist. Umso wichtiger ist die genaue Beobachtung jener späten Befreiung von den eingeübten Rollen. Wenn auch der Vater kein Held mehr werden wird, so bekommt er doch ein Fundament, das sein eigenes Leben besser zu verstehen hilft und auch seine Qualität für das Leben der Mutter. Zwangsläufig muss das Bildnis der Mutter auch ein Bildnis des Vaters einbeziehen, da diese ein Paar bleiben wider aller Sehnsucht. „Mit fünf war es auch – Mutter bestätigte es mir kürzlich –, dass ich ihr sagte, sie solle sich scheiden lassen”, heißt es auf Seite 65. Es ist ein Buch, das zeigt, welche (vergebliche) Arbeit die Kinder übernehmen, wenn sie ihre Eltern beschützen möchten. Doch die Mutter bleibt bei ihrem Mann, dessen verhärmte Grundhaltung sich wiederholt in Sparsamkeitsmanien offenbart – wo doch die berufliche Entwicklung der Familie selbst ein kontinuierlicher Aufstieg aus bedrückender Armut ist.
Sich nichts zu gönnen heißt für gewöhnlich auch, die Gefühle immer unterdrückt zu halten, denn ihnen nachzugeben bedeutete Kontrollverlust. Die Mutter entsagt erst im Alter jener familiären Fremdbestimmung. Zwar reicht es naturgemäß nicht mehr zum Auftritt auf der eigenen Bühne, dafür nutzt sie die Bühne des schreibenden Sohnes, die ihr nach mancher Lesung geschaffen wird. „Es war, so führte meine Mutter vor der staunenden Runde aus, ganz entscheidend, sich als Frau seine Unabhängigkeit zu erkämpfen, und die Unabhängigkeit der Frau begann bei getrennten Schlafzimmern“, doziert sie energisch anlässlich manch geselliger Runde nach einer solchen Buchvorstellung. Bewundert wird sie dafür von den anderen, aber auch vom Sohn. Diese späte Mutter scheint dort anzuknüpfen, wo die Tochter einst Halt gemacht hat: Als 22-Jährige bekniet sie einen französischen General, den von den Besatzungstruppen entwendeten BMW des Vaters zurückzugeben, da dieser für die Familie unverzichtbar sei. Ihr Recht durchzusetzen hat sie nicht verlernt, es anzuwenden nur über größere Etappen vergessen. Daran erinnert dieses Buch.