In Die Augenblicke des Herrn Faustini quält die schrullige Figur ein besonders diffiziles Problem: Jene Momente intensiven Erlebens, die das Dasein des selbstdeklarierten Zeitdiebs lebenswert machten, sind einem inneren „Riss“ gewichen: „Ich habe so ein Gefühl, nein, das ist es nicht, ich habe mehr so ein Gefühl, als hätte ich ein Gefühl. Weil mir nicht mehr klar ist, wen ich eigentlich meine, wenn ich Ich sage.“ Davon, dass er den direkten Zugang zur Welt verloren hat und nichts mehr von unmittelbarer Bedeutung ist, erzählt Faustini, als er „sich selbst in Reparatur“ gibt, bei seiner ersten Therapiesitzung. Die Therapeutin erkennt die Empfindsamkeit ihres Patienten, rät ihm zur Ruhe zu kommen und zu verreisen.
Das Reisen ist schon in Faustinis bisherigen Erlebnissen zentrales Thema gewesen. Diesmal lässt er das Zufallsprinzip über seine Destination entscheiden: Ausgerechnet im rauen, kleinen Städtchen Edenkoben in der Pfalz, dessen beste Zeit weit zurückliegt, will er seine persönliche Suche „nach dem Augenblick, in dem alles zusammenkommt“, in dem er das Pulsieren der Welt fühlt, antreten.
Mit jedem zurückgelegten Kilometer kommentiert Herr Faustini sich selbst weniger. In Edenkoben richtet sich seine Aufmerksamkeit auf die Bewohner der Stadt, die komisch und eingehend beschrieben werden: So macht er etwa Bekanntschaft mit einem „roten Jäckchen, aus dem der gebeugte Nacken eines kleinen Mannes lugte“, verliert sich in den Verschwörungen und Dramen eines fremden Ehepaars und trifft auf einen „Kofferallergiker“, der es auf den Tod nicht ausstehen kann, wenn das Reisgepäck vor der Tür „zum Diktator“ wird. Jede Begegnung, die Herr Faustini macht, scheint einen eigenen magischen Kosmos zu offenbaren.
Das Kleine im Großen und das Große im Kleinen wird auch in den stillen Momenten zärtlich geschildert. Beispielsweise wenn Herr Faustini nicht von außen hinein, sondern von innen hinaus sieht und den Sternenhimmel betrachtet: „Herr Faustini wurde ganz leicht, er musste sich am Fensterbrett festhalten, um nicht hinauszusegeln in die Endlosigkeit. Dort war nur, was jeder hineindachte. Der ganze Himmel ein Netz ungezählter Wünsche, die an den Sternen doch nicht hängen blieben.“
Die Diskrepanz zwischen der luftig-leichten Welt des Herrn Faustini und der tatsächlichen Welt wird immer dann deutlich, wenn die Realität in sein Bewusstsein Einzug hält – und dies geschieht häufig im Zusammenhang mit Politik. Mit dieser hat Herr Faustini gar nichts am Hut: ob ein Naziaufmarsch oder der Fernsehbericht über eine amerikanische Militärbasis in der Nähe des Pfälzer Waldes, „er wusste, dass nichts Gutes dabei herauskam“ und das genügt.
So wie sich Herr Faustini der Politik entzieht, so entzieht er sich am Ende auch dem Städtchen Edenkoben, das nur den Anfangspunkt seines Abenteuers markiert: „Herr Faustini spürte den Sog der Weite. Er konnte gehen, aufbrechen, wohin er wollte.“ Die Erkenntnis frei zu sein ist nur einer der wunderbaren Augenblicke des Herrn Faustini, an denen uns Wolfgang Hermann teilhaben lässt.