#Prosa

Die Obstdiebin

Peter Handke

// Rezension von Janko Ferk

Oder Einfache Fahrt ins Landesinnere

Peter Handke hat auf das neueste Buch bereits in seinen Aufzeichnungen mit dem Titel „Vor der Baumschattenwand nachts“ (Salzburg 2016) hingewiesen und festgehalten, es solle sein „letztes Epos“ sein. Nach den Versuchen sozusagen ein Großversuch… In der Obstdiebin hat er Notizen-Motive aus der „Baumschattenwand“ ausformuliert und zu Prosa ausgebaut.
Schlägt man Die Obstdiebin auf und beginnt zu lesen, fällt einem nach einem halben Buchbogen die heute schon als nobel zu bezeichnende Fadenbindung auf, dann das Wort „Niemandsbucht“, darauf die sogenannte alte Rechtschreibung und schließlich der relativ große Druck und Durchschuss, weshalb das 558-Seiten-Buch zu bewältigen ist wie ein durchschnittlicher 300-Seiten-Band.

Doch weg von den Äußerlichkeiten und ins Buchinnere, würde der Ich-Erzähler vielleicht sagen… Davor nur noch ein letzter Satz zum Formellen: Die mit einem Untertitel versehene „Obstdiebin“ trägt keine Gattungsbezeichnung.
Ein Roman, das sei bemerkt, ist Die Obstdiebin nicht. Die Leserin und der Leser folgen Peter Handke aus der Niemandsbucht, das heißt, seinem Alterssitz in Chaville bei Paris, einer für die Handke-Gemeinde vertrauten Gegend, in die Picardie, wo sein zweites Haus steht. Die Zeitangabe des Aufbruchs klingt – trotz der allgegenwärtigen IKEA-Werbung – sonderbar. „Diese Geschichte hat begonnen an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird.“ (S. 9.) Der Erzähler, Handkes alter ego, macht sich nach dem Stich-Tag im Mittsommer auf die Suche nach der „Obstdiebin“. Zuerst zu Fuß, dann mit dem Zug. Die Gesuchte ist ebenso auf der Suche, nämlich nach Vater, Mutter und jüngerem Bruder. Sie durchstreift die Picardie und ernährt sich von Obst, nie von Feldfrüchten. Ein Stück des Wegs begleitet sie ein marokkanischer Pizza-Ausfahrer, der im Buch nicht wirklich das Zeug zum Helden hat.

Der Erzähler versieht die Seiten mit zahlreichen Frage- und Rufzeichen, fast massenhaft. Auf die aufgeworfenen Fragen gibt er zwar Antworten, aber keine richtigen. Auch Tautologien tauchen da und dort auf, wobei eine assoziativer ist als die andere: „Die Welt war die Welt war die Welt.“ (S. 500.) Und man kann an dieser Stelle nur noch anmerken, dass auch Gertrude Stein bemüht wird. Die Gedankenstriche, Fragezeichen und rhetorischen Selbstbestätigungen führen zu stockenden, zögerlichen Sätzen. Der Erzähler nimmt sich rhetorisch zurück, zweifelt, dann wieder bejaht er sich selber, und zwar in der Art, die Handke in ORF-TV-Interviews mit Krista Fleischmann kultiviert hat.
Die Obstdiebin ist mit Sicherheit lesbar, aber eigentlich nicht nacherzählbar, zumindest nicht wie ein Roman, zumal das Buch weder eine Handlung noch Spannung kennt. Vielleicht muss man den Schlüssel darin suchen, dass vorerzählt wird. Dabei moduliert Handke seine Stimme der Gegenwartsliteratur in diesem Buch auf ungekannte Art – noch sorgsamer als in den vorherigen.
Die Gegend, die Handke beschreibt, kennt man aus seinen Arbeiten bereits seit Jahrzehnten. Zum ersten Mal, könnte man konstatieren, gibt er das Zeitlose für Gegenwartseinsprengsel auf. Auf einmal schreibt er über Google, Handys und Internet. Für Peter Handke ein literarischer Quantensprung.

Unverkennbar sind die vielen autobiografischen Hinweise, beispielsweise auf die Staatenlosigkeit, die in seiner Kindheit auch ihn betroffen hat. Auf den Zimmermannsberuf, den nicht studieren wollenden Haussohn, der – frühmorgens zuhause angekommen – ansatzlos den Hof kehrt, den verwandten Kriegstoten, der verschollen ist, und so weiter. „Kein Schmerz schmerzlicher, keine Untröstlichkeit untröstlicher als um die Verschollenen.“ (S. 471.) Daten und Parameter, die der Handke-Leser kennt, führt er in diesem Buch doch die Stoffe seiner verschiedenen Werke gleichsam zusammen, wobei sehr stark „Über die Dörfer“, „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ sowie „Der Bildverlust“ anklingen, und wie gesagt, die „Baumschattenwand“, weil deren Skizzen ergänzt, erweitert und ausgeschmückt werden.
Nicht unerwähnt sei, dass die Reise ins Landesinnere, die man auf der Landkarte genau verfolgen kann, ein Ausflug ist, bei dem zur Sprache kommt, dass das Land von Tod und Terror erschüttert wurde. Liest man „… ein Auto raste übers Land, wie bereit zu töten“ (S. 541), wird einem anders, wird einem die Gegenwart mit ihren ungelösten Problemen bewusst, … und zwar schmerzhaft.
Zum Schluss, nein, zum happy end, findet mit der „Obstdiebin“ sowie Vater und Mutter ein Versöhnungsfest statt. In der verbalisierten Form ein bisher nicht gebrauchtes Handke-Motiv.

Auffallend, aber nicht immer angenehm ist das kleine Prunken mit den Sprachkenntnissen. Handke bemüht neben der Werk- die Fremdsprachen Englisch, Französisch, Latein, Russisch, Serbisch und Slowenisch. Wozu, müsste man im Ton der „Obstdiebin“ fragen. Nur das gute alte und tote Griechisch fehlt, auf dessen Beherrschung er in anderen Büchern gern hingewiesen hat, beispielsweise am Ende der „Kindergeschichte“.
Die Obstdiebin ist, wie die schöne „Kindergeschichte“ (Frankfurt am Main 1981), eigentlich ein Vater-Tochter-Buch. Die Differenz ist das Nicht-Beantworten der vielen angetippten Anstöße, das Schaffen der bewussten Leerstellen, wahrscheinlich der Wunsch des Erzählers nach dem Schließen derselben durch die Lektüre der früheren Bücher, in denen noch geantwortet, erwidert oder vielleicht sogar repliziert wird.
Die letzten drei Sätze lauten: „Nein, seltsam. Bleibend seltsam. Ewig seltsam.“ (S. 559.) Sie können auch als Resümee des erzählenden Tagediebs für Die Obstdiebin stehen. Zu Recht.

Peter Handke Die Obstdiebin
Prosa.
Berlin: Suhrkamp, 2017.
558 S.; geb.
ISBN 978-3-518-42757-6.

Rezension vom 19.12.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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