Die Sentenzen, Notizen oder Prosaminiaturen in Handkes „Vor der Baumschattenwand nachts“ zeugen von kraftvoller Liebe. Liebe zum Detail, zum Verrücken der Wirklichkeit, zur trotzigen Subjektivität. Diese Collage kümmert sich weder um Chronologie noch um logische Anordnung. Sie bewirkt geradezu ein epileptisches Lesen, das einen taumelnd von einer Assoziation in die andere stürzen lässt. Schließlich sind diese Aufzeichnungen konsequent inkohärent. Etwas kryptisch könnte man feststellen, kein Gedankengang folgt dem nächsten … und das nahtlos. Vielleicht ist es in diesem Fall ratsam als medizinisch wachsamer Rezensent darauf hinzuweisen: „Lesen Sie bloß zwanzig Seiten in einem Stück!“ Dadurch hält die Lesebeziehung zu diesem Buch auch länger.
Die Dekonstruktion des Aphorismus gelingt, wenn neben dem Tiefsinnigen das Banale steht. Solche Kontraste birgt auch dieser Platz vor der Baumschattenwand. Nachts sind die Bilder wirr, die Gedanken wüst, die Ideen überbordend … die Einsicht ins Leben mitunter matt. Diese Lektüre der Einschübe ist auch eine Beobachtung des Lesers Peter Handke: Von Ibn ‚Arabi über Goethe, Balzac, Thoreau bis zu Mayröcker sowie unzähligen Autorinnen und Autoren mehr zeugen die Zitate und Anmerkungen. Wie schon in den frühen Romanen gewissermaßen als Subroman präsent (beispielsweise Karl-Philipp Moritz‘ „Anton Reiser“ in „Der kurze Brief zum langen Abschied“), zeigt auch die etwas intimere Einsicht durch solch ein Kompendium wie die ‚Baumschattenwand‘ Handkes mäanderndes, ungebrochen vitales Lesen. Ein sozusagen chronisches Nomadentum in sich zu tragen bedeutet demnach auch, lebenslang ein suchend Lesender zu bleiben. Gerade dieses Zitieren, das manchmal bloß einer flüchtigen Berührung verpflichtet ist, wird deshalb persönlich, weil es ohne lästiges wissenschaftliches Quellenstudium und ohne Anspruch auf Zusammenhang im Ursprungstext auskommt. Ein solches Zitieren verleitet zu einem Lesen der Aneignung. Aneignung im Sinn eines gesegneten Spinnens. Literatur als Weiterspinnen von Literatur.
Manche Notiz besteht bloß aus einem Wort. Reduktion um der Aufmerksamkeit willen. Interjektion subkutan! Diese „Parerga und Paralipomena“ Handkes stehen in einer Reihe. Immer ist die Zeit im Titel präsent: Nachmittag eines Schriftstellers, Gestern unterwegs oder Am Felsfenster morgens. Wenige Autoren veröffentlichen derart persönliche Aufzeichnungen. Man darf allerdings auch kritisch anmerken, dass wenige Autoren einen Verlag haben, der diese publizistische Bereitschaft und Sorgfalt pflegt. Wie schön wäre es, mehr von solchen Notizen gewiss Tausender Schreibender zu lesen! Am besten ante und nicht post mortem. Gut, Handke ist eben Handke und das Interesse an seinen eigenen Begleitbüchern zur Primärliteratur war schon zu Beginn seines Schreibens groß. Selbst wenn man einwenden mag, dass die Sammlung „Gestern unterwegs“ noch eine Spur gewaltiger, orkanhafter ist, die Sinne mit einer Wirklichkeitsvielfalt geradezu flutet, so bildet Vor der Baumschattenwand nachts auf alle Fälle eine Üppigkeit, die Kenner des Werks begehren werden. Eine schöne Ergänzung ist in diesen ‚Zeichen und Anflügen von der Peripherie 2007-2015‘, wie es im Untertitel des Buches heißt, die Beigabe von Zeichnungen von Handke, die verspielt und präzise Kurioses wie Nebensächliches festhalten und damit eine willkommene Korrespondenz mit dem Text herstellen.
Vielleicht droht aber einmal doch das Ende des schreibenden Handke? Eher nicht, denn selbst die Zeichnungen sind versehen mit Zeichen. Zeichen auf Zeichnung, ganz nah beisammen.