#Prosa

Kali

Peter Handke

// Rezension von Martina Wunderer

„Lass diese Frau. Meide sie. Todesgeschichten, insbesondere gewaltsame, sind nicht dein Fach,“ bekennt der Erzähler dieses neuen Romans (wenn er denn einer ist) auf halbem Wege. „Aber dann wieder erscheint es mir als meine Sache, ihr weiter nachzugehen,“ dieser geheimnisvollen, mächtigen Frau, Sängerin, Liebende, Suchende, Todgeweihte. „Auch mir hat sie Angst gemacht, macht sie Angst. Aber ich möchte mich ihr stellen.“

Und so nimmt er seinen Platz als Beobachter ein, gleichzeitig Autor und Leser seiner eigenen Erzählung, die nun anhebt, einer Erzählung zum Tode hin, denn „so steht es geschrieben.“ Als trete er gleichsam einen Schritt hinter sich selbst zurück, nimmt er die Perspektive des Zuschauers ein. Erst durch dieses „umfassende Zuschauen“, vermittelt über die minutiöse Aufzeichnung jeder Geste, jedes Blicks, jedes Wortwechsels durch den voyeuristischen Erzähler rücken die Figuren ins Bild, werden überhaupt erst ab jenem Augenblick lebendig, als er in ihren Bannkreis tritt. Wie in Handkes letztem Stück „Spuren der Verirrten“ sind es Menschen ohne Vergangenheit, Entwurzelte, Verlorene, Vertriebene, Flüchtlinge, Ausgewanderte, „Überlebende des Dritten Weltkriegs, der rund um uns schon seit langem wütet, unerklärt, wenig sichtbar, aber umso böser.“ Die allgegenwärtige Bedrohung des Krieges, dessen Beginn Handke in „Spuren der Verirrten“ prophezeit hatte, und dessen Lärm nun tatsächlich jedes Lachen, jedes Fest, jedes Gebet übertönt, wirft einen Schatten auf diese idyllische Niemandsbucht, in die der Erzähler der rätselhaften Sängerin nun auf ihrer vorwinterlichen Reise folgt, „in die Gegend gleich nebenan, hinter dem Kindheitsfluss, hinter dem Kindheitssee, hinter dem Kindheitshügel“, eine Auswanderergegend, wo der Winter noch Winter ist. Ein toter Winkel, der sowohl das biblische Babylon mit seiner Sprachverwirrung beschwört als auch Schauplatz biblischer Erlösungsszenarien wird. „Der Untergrund dort besteht bis in die tiefsten Tiefen aus Salz – Kali.“

Kali, so lautet auch der Name der geheimnisvollen Sängerin, Ruferin, Musikantin – Kali, die Schwarze, im Hinduismus die Göttin des Todes und der Zerstörung, von schrecklicher Gestalt, gekleidet in Totenschädel und abgetrennte Glieder, ein totes Kind an ihrem Ohrläppchen. Diese Assoziation verheißt nichts Gutes, denn ein Kind ist verschwunden, Mädchen oder Junge, man weiß es nicht, verschwunden in der Salzwüste, unauffindbar, und bald beginnt der bittere Winter mit Schneestürmen und Frost.

Kali, Kala, die Zeit, die alles hinweg raffende, die alles vernichtende Zeit. Auf ihrer Stirn das dritte Auge, in der Hand die erhobene Sichel, die Blutschale. Sie, die göttliche Mutter, vermag nicht nur Leben zu zerstören, sondern auch Leben zu schenken, die Menschen zur Erlösung zu führen. Denn nur die Vernichtung des Gegenwärtigen bereitet den Boden für das Zukünftige, das bereits als Vorschein in den Toten Winkel gedrungen ist.
„Ein dritter: ‚Kein Kriegslärm.‘ Ein vierter: ‚Keine Verlassenheit. Keine Alpträume. Keine Todesangst. Keine Lebensangst. Kein Verlorengehen.'“

Getragen von der schmerzlich schönen Melancholie dieser Einsicht schwingt sich die vorwinterliche Erzählung zu schwindelerregenden Höhen auf, hebt an zu einer wütenden Predigt gegen die unschuldige Schlechtigkeit der Menschen und der Welt, gegen die Hölle auf Erden. Das kulturkritische Pathos, gespeist aus ernster Wut, mag oft dick aufgetragen erscheinen, doch wird es von Handke stets in eine zwingende sprachliche Form gegossen.

Nein, eine einfache hermeneutische Lektüre, ein leichtes Erschließen durch „sekundäre Diskurse“, um es mit Botho Strauss zu sagen, gestattet Handkes Literatur nicht. Ähnlich wie in den Erzählungen Kafkas erschöpft sich dabei nur der Interpret in der Bewegung des Glossierens, ohne je an ein Ende zu kommen, der Text entzieht sich, spielt oft ernsthaft, oft ironisch mit dem Leser, ohne ihm je ganz gehören zu wollen. Die Vielfalt der Einflüsse, die unzähligen Anspielungen literarischer, theologischer, kulturtheoretischer Herkunft, die sich zu einem vielstimmigen Chor verflechten, geben Zeugnis von Handke, dem Leser, der in einem Heiner Müllerschen Dialog mit den toten Dichtern und Denkern, in einem Prozess der produktiven Lektüre vorausgegangene Texte aufgreift, weiterschreibt, umschreibt.

Märchenhaft die Motive, zauberisch die Eindrücke, das Sakrale in der profansten Geste beschwörend, verortet sich diese schwebende Vorwintergeschichte in einer Atmosphäre des Fantastischen, wie sie Todorov beschreibt: „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“ Fantastisch mutet dem Leser das karge, archaische Land auf Salzgrund an, fantastisch die Begegnung Kalis mit dem Mann, der ihr bestimmt ist, ihre gemeinsame Reise in den Abgrund, an den tiefsten Punkt des Salzwerks, wo sie zu einer Statue aus Salz verschmelzen, fantastisch ihr Überleben, ein Geschenk des Schneewindes: „Denn nirgends-steht-es-geschrieben.-Und-da-es-nirgends-geschrieben-steht,-und nur-gesagt-ist,-müsst-ihr-es-nicht-tun,“ und das Überleben des verschollenen Kindes.

„Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen,“ schreibt Walter Benjamin in seinem Erzähleraufsatz von 1930. Handkes Vorwintergeschiche ist eine solche „Todesgeschichte“, die dank eben dieser Autorität des Todes Leben zu schenken vermag, wie Kali, die indische Gottheit, die mit der Vernichtung neues Leben schenkt: „Das Leben ist neu erschienen. Die Träume sind zurückgekommen.“ Und mit ihnen eine neue Zeit, in der Benjamin zum Trotz die Kunst des Erzählens wieder zu Blühen beginnt. War „die Geburtskammer des Romans das Individuum in seiner Einsamkeit“, so schenken Handkes Stücke und Erzählungen die Hoffnung auf eine Gemeinschaft der Überlebenden: „Ah, wenn einmal ein Kind ins Erzählen kommt: Gehen von Menschen unter blühenden Bäumen…“
„Schaut, schaut – hört, hört.“

Peter Handke Kali
Eine Vorwintergeschichte.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
161 S.; brosch.
ISBN 978-3-518-41877-2.

Rezension vom 10.04.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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