#Prosa

Lucie im Wald mit den Dingsda

Peter Handke

// Rezension von Klaus Kastberger

Die Mutter ist wunderschön, der Vater irgendwie ekelerregend. Er streift im Wald und im Garten umher und hat schmutzige Fingernägel. Wenn einmal Gäste kommen, übersehen sie ihn mit Sicherheit, hockt er doch ständig am Boden und ist beinahe selbst schon zu Erde geworden. Außerdem zittert der Mann ständig: am Morgen, zu Mittag und am Abend; im Sommer und im Winter; im Sitzen und im Stehen; beim Essen und beim Lesen, ja sogar beim Fernsehen schüttelt es ihn, so daß man dem Programm nicht mehr folgen kann.

 

Warum er denn andauernd zittert, will die kleine Lucie also von ihrem Vater wissen. Zwei Gründe gibt dieser daraufhin an. „Ich kann nicht umhin zu zittern“, so sagt er, „weil ich als Kind auf der Flucht war, von einem Land zum nächsten, über eine Grenze zur anderen – damals gab es noch Grenzen, aber diesen Ausdruck kannst du jetzt glücklicherweise vergessen.“ Der zweite Grund liegt im früheren Familiennamen des Vaters, der in der Übersetzung eben genau dies, nämlich Zitterer, bedeutet hat.

Heute, also zu jener Zeit, da Peter Handke sein Märchen von der kleinen Lucie erzählt, haben die Wörter ganz offenkundig ihre Verbindlichkeit verloren. Die Namen sind austauschbar geworden, man legt sie ab wie ein paar Kleidungsstücke, die aus der Mode gekommen sind. So ist dann folgerichtig auch Lucie gar nicht der wirkliche Namen jenes Mädchens, das in dem Text Lucie genannt wird. Die Kleine wollte nicht so heißen, wie sie hieß; sie wollte lieber Theodora, Aurora, Renata, Jelena oder eben auch Lucie heißen, und so heißt sie dann auch in dem Märchen, das Handke von ihr und wohl auch für sie erzählt.

In gewisser Weise legt das Buch Lucie im Wald mit den Dingsda tatsächlich eine solche holzhammermäßig-biographistische Auflösung nahe. Hinter der schönen Mutter könnte man mit Fug und Recht die Lebensgefährtin Handkes, die Schauspielern Sophie Semin, vermuten, obwohl man nicht annehmen wird, daß sie jemals der im Märchen genannten Profession (dazu später) nachgegangen ist. Hinter der kleinen Lucie hätte sich folgerichtig deren und Peter Handkes gemeinsame Tochter versteckt; der ekelige Vater wäre, setzte man die entsprechende Brille auf, der Autor selbst.

Wenn man schon mit solchen Schlüsseln operiert, sollte man gleich auch den entsprechenden Dietrich für das Wort „Dingsda“ basteln, welches übrigens anders als im Titel im Text selbst immer nur als „Dingsbums“ aufscheint. Diese Unentschiedenheit mag den wahren Textphilister stören, für die Auflösung des Begriffes ist sie aber unerheblich: Das Dings-irgendwas steht in jedem Fall im Wald herum, und manche suchen es. Von Lucie wird es „Waldbodenauswuchs“, „Waldkram“, „Mulm“ oder „Waldwicht“ genannt; der Vater sagt „Sankt-Georgs-Ritterling“, „Petuschka“, „Apfeltäubling“, Gallenröhrling“ oder „Krause Glucke“. Kurzum: Es geht in dem Märchen, wenn es denn ein Märchen ist, um Pilze, und gegen Ende stellt sich sogar noch die kleine Lucie als die bessere Sammlerin heraus, was bei der Sammeltechnik des Vaters auch gar kein Wunder ist.

Ist es also ein Kinderbuch, das Handke vorlegt, nur weil er das Buch ursprünglich für seine Tochter geschrieben hat? Ich meine, man kann den Text schwerlich auf seine Ausgangssituation reduzieren. In Peter Handke vermag man eben nach den vieldiskutierten Serbien-Essays nur schwerlich jenen unschuldig Erzählenden zu sehen, den man sich (wahrscheinlich zu vollem Unrecht) gerne als den idealtypischen Autor von Kinderbüchern vorstellt. Lucie im Wald mit den Dingsda beweist eine Art von Gegenteil: Dieses Buch ist für ein Kind und damit für sehr viele Erwachsene geschrieben. Ein Kinderbuch also, das die Welt der Erwachsenen nicht vergessen hat.

So ist dann in dem Märchen von Lucie auch jenes Thema präsent, mit dem sich Handke in den letzten Jahren wirklich intensiv beschäftigt hat, nämlich das Thema des Krieges und des Zusammenbruches von Ordnungen. Im Verlaufe des Textes macht sich hinter den brüchigen Idyllen des Waldes und des Pilzesuchens zusehends eine zweite Ebene bemerkbar. Es setzt sich eine Sichtweise durch, die die Mutter nicht mehr alleine als normale Polizistin (die sie zu Beginn war), sondern als „Chefpolizistin“ betrachtet; als solche hat die schöne Frau den Ausnahmezustand durchzustehen. Der Vater hingegen wird aus einem undurchsichtigen Grund ins Gefängnis geworfen; Lucie fährt in der Stadt und löst ihn beim „König“ mit einem Korb voll Dingsbums aus. Die Pilze entfalten im Märchen eine Wirkung, die man sich für die Erwachsenenwelt wünschen würde.

Dorthin, nämlich zu den Erwachsenen, kehrt Handke über den Umweg seiner Tochter mit Lucie zurück. Von den Pilzen selbst bleibt solcherart nicht nur ein klitzekleiner utopistischer, sondern auch ein verwehter halluzinogener Wert: „Lucy in the Sky with Diamonds“ hatten einstmals die Beatles gesungen; meine Klassenkameraden im Gymnasium erklärten mir später, daß dies (den Anfangsbuchstaben der Substantive entsprechend) eine Hymne auf LSD gewesen sei. In Peter Handkes Titelparaphrase geht diese kleine Spielerei nicht mehr auf. Umso dringlicher wäre denen, die an einer anderen Welt interessiert sind, diese Liebeserklärung eines Vaters an sein Kind zu empfehlen.

Peter Handke Lucie im Wald mit den Dingsda
Geschichte.
Mit 11 Skizzen des Autors.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999.
91 S.; geb.
ISBN 3-51841-065-2.

Rezension vom 11.11.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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