#Roman

Eine Ahnung vom Anfang

Norbert Gstrein

// Rezension von Judith Leister

Ist der Lieblingsschüler zum Terroristen geworden? Ein Deutschlehrer sorgt sich, dass sein ehemaliger Schüler zum religiösen Fanatiker geworden sein könnte. Anton, so heißt der Lehrer, sitzt eines Abends im Dorfkrug und liest in der Lokalzeitung von einer Bombe, die auf dem Bahnhof gefunden wurde. Daneben ein Zettel: „Kehret um! Erste und letzte Warnung! Beim nächsten Mal wird es ernst!“ Auf dem unscharfen Foto der Überwachungskamera neben dem Artikel meint er seinen hochbegabten und exzentrischen Schüler Daniel zu erkennen. Nun erinnert sich Anton, der auch der Ich-Erzähler von Eine Ahnung vom Anfang ist, an den Sommer vor zehn Jahren, in dem er Daniel näher kennen lernte, und spielt seine Erinnerungen noch einmal durch. Um es gleich zu sagen: Agata, die bodenständige Kellnerin des Dorfkrugs, wird Recht behalten, wenn sie das Nachdenken über Daniel für fruchtlos hält: Agata „meinte, ich möge ihn ruhig unter der Lupe betrachten, würde dadurch aber nicht mehr sehen, es sei alles nur in meinem Kopf“.

Alles fing damit an, dass Anton sich eine einsame Mühle außerhalb des Orts kaufte, in der er sich gern in den Sommerferien aufhielt. Eines Tages wird er von seinem Schüler Daniel und dessen Freund Christoph besucht. Sporadisch kommt auch die von beiden Jungen bewunderte Mitschülerin Judith dazu. Man freundet sich an, diskutiert bei Rotwein über Gott und die Welt und renoviert gemeinsam sogar die alte Mühle. Gstrein legt die Mühle als Ort außerhalb von Raum und Zeit an. Einerseits markiert die Gegend um das Gemäuer eine Todeszone, da hier – in fast absurder Häufung der erzählerischen „Zufälle“ – Antons Großvater überfahren wurde, der Onkel „ins Wasser gegangen“ ist und der Bruder Robert sich erschossen hat. Andererseits wird die Mühle in der Erinnerung an jenen Sommer vor zehn Jahren zum Märchenort, zum locus amoenus. Ein Idyll in Badehosen, außerhalb der Gesellschaft.
Es darf als bewusster erzählerischer Kunstgriff gelten, dass die „Lupe“, unter der Anton die Vergangenheit betrachtet, seltsam unscharf bleibt. Die Faszination dieser ungewöhnlichen Gruppe wird nicht fassbar. Man hat als Leser nicht den Eindruck, dass die Personen sich wirklich vertraut waren oder einander vertrauten. Eher erscheint der Zirkel selbst als eine ferne Erinnerung an die Idee platonischer „Freundschaft“, deren Vorbild der George-Kreis mit seiner homosexuell grundierten Lehrer-Schüler-Beziehung sein mag. Geradezu fanatisch liest Daniel vom Lehrer empfohlene Autoren wie Sartre, Camus und Thoreau – die gleichen Bücher, die dieser einst seinem toten Bruder empfahl. Die Radikalisierung Daniels erinnert ihn immer mehr an das Scheitern des Bruders: „Ich kann bis heute nicht sagen, ob Robert sich aus der Welt hinausgelesen hat oder ob es umgekehrt war, ein vergeblicher Versuch, sich mit dem Lesen in der Welt zu halten.“ In der Schule vertritt Anton vor der Klasse die These, dass es „gerade die Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit [ist], die einen dazu bringe, Schuld auf sich zu nehmen“ – eine Überlegung, die von seinem Umfeld schon als gefährliches Gezündel betrachtet wird. Unterdessen wird die Gemeinschaft an der Mühle immer mehr beargwöhnt und bedroht. Neugierige Ansässige schleichen am Fluss herum, drohen den dort Sitzenden aus der Ferne, und sogar Schuldirektor Aschbrenner spricht Anton besorgt auf das Gerede im Ort an.

Noch unklarer werden die Beziehungen zwischen den Figuren mit dem Auftauchen eines evangelikalen Predigers samt Familie aus Amerika, der angeblich die Stelle nahe der Mühle besuchen will, an der sein Vater im Zweiten Weltkrieg mit seinem Bomber notlanden musste – ein Ereignis, das Antons Mutter als Kind miterlebte und das in der Vorstellung ihres Sohn eine große Rolle spielt. Doch der geheimnisvolle Reverend besucht seltsamerweise auch die Höhle, in der sich Antons Bruder einst erschoss – angeblich, weil Robert dort einen sporadischen Altar aufgebaut haben soll. Es wird auch gemunkelt, dass der Prediger gegen Homosexualität und Hurerei wettert und damit offenbar die Gemeinschaft vom Fluss meint. Der Kompliziertheiten nicht genug, zeigt sich schließlich, dass Daniel, der von den Mitschülern Jesus tituliert wird, vom Reverend indoktriniert wird. Später besucht Daniel den Prediger in Amerika, der dort nun angeblich mutterseelenallein in einer Kleinstadt lebt. Doch auf der Gegenwartsebene des Romans bleibt Daniel verschollen und kann nichts von dem, was über ihn gesagt wird und was er gesagt haben soll, kommentieren oder gar dementieren.

Norbert Gstrein liebte es schon in früheren Romanen, ein ausgeklügeltes Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit zu treiben. Auch hier verwendet er viel Mühe darauf, um das Erzählte durch ein dichtes Geflecht von Gerüchten und Vermutungen, Interpretationen und Umdeutungen zu dekonstruieren. Dahinter steht die Frage, ob das Leben per se erzählbar ist – ebenso wie die Frage nach der Wirkung von Lektüren auf das „echte“ Leben. Das literarische Vexierspiel beeindruckt durch Komplexität und Differenziertheit. Viele der Nebenfiguren – die grundsolide Agata, der stets besorgte Aschbrenner oder der überraschend lebenskluge Polizeiinspektor Hule – sind bis in die Details liebevoll gezeichnet. Dass die Handlung gelegentlich nicht recht vom Fleck kommen will, ist vielleicht der Preis für den erkenntnistheoretischen Mehrwert dieser „Ahnung vom Anfang“. „Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler“, schrieb Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften. „Sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, dass ihr Leben einen ‚Lauf‘ habe, irgendwie im Chaos geborgen.“ Zu dieser Art von Erzählern gehört Gstrein in jedem Falle nicht.

Norbert Gstrein Eine Ahnung vom Anfang
Roman.
München: Hanser, 2013.
350 S.; geb.
ISBN 978-3-446-24441-2.

Rezension vom 31.08.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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