#Roman

Die ganze Wahrheit

Norbert Gstrein

// Rezension von Sabine Dengscherz

Wahrheit ist etwas Relatives.
Und die ganze Wahrheit erst recht.
Es gibt eine ganze Menge Versionen davon.
Manche von ihnen werden von Anwälten beschützt, andere von Priestern.

Norbert Gstreins jüngster Roman Die ganze Wahrheit ist fest in der Wirklichkeit verankerte Fiktion. Es geht um Wahrheitsversionen und Weltinterpretationen, religiöse wie profane, – und die Handlung hat zahlreiche Parallelen in der außerliterarischen Realität des Literaturbetriebs: Der ältere Verleger Heinrich Glück heiratet in zweiter Ehe die junge hübsche Dagmar, die wiederum nach seinem Tod ein (gelinde gesagt) eigenwilliges Buch über ebendiesen Tod schreibt. Schon im Grundmotiv – und ebenso in zahllosen Details – spiegeln sich Fakten, Mythen und Gerüchte rund um den früheren Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und seine zweite Frau Ulla Berkéwicz, die einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes ihr Trauerbuch „Überlebnis“ veröffentlichte.

Die ganze Wahrheit einfach nur als Schlüsselroman zu lesen greift aber zu kurz. Norbert Gestrein treibt vielmehr ein raffiniertes Spiel mit Wahrheiten und Wirklichkeiten auf mehreren Ebenen.
Als Ich-Erzähler fungiert ein ehemaliger Verlagslektor, der sich wegen Dagmars „Sterbebuch“ mit seiner Verlegerin entzweit hat und sich nun bemüßigt fühlt, statt dessen Tod das Leben des Verlegers Heinrich Glück zu verewigen. Allerdings geht es dabei letztendlich kaum um den Verleger selbst, sondern vielmehr um seine Witwe, ihren Lebenswandel, ihre Obsessionen, ihren Umgang mit dem Verlag und seinen Angestellten und ihre Weltsichten und Lebenseinstellungen.
Die Figur Dagmar ist nicht eben sympathisch, aber durchaus facettenreich. Femme fatale mit esoterischem Einschlag und intriganten Machtallüren, aber doch auch eine, mit der man sich unterhaltsam Nächte um die Ohren schlagen kann. Viele gute Haare lässt der Lektor nicht an ihr, aber das eine oder andere ist es doch.

Das Spiel mit der Wahrheit beschränkt sich aber nicht auf die innerliterarische Welt des Romans, sondern bezieht die Erwartungshaltung der Branche ebenso mit ein. Bereits Mitte Juni wurde das Erscheinen des Buches angekündigt. Verlagswelt und Presse mussten dann aber doch noch bis Mitte August darauf warten. Zwei Monate Zeit für Spekulationen: Wie weit wird er gehen? Was will Gstrein mit diesem Roman? Will er bewusst einen Skandal heraufbeschwören? Wird er dafür verklagt werden?

Ich-Erzähler und Autor dürfen wir nicht gleichsetzen, wenn wir nicht als naiv abgestempelt werden wollen, das wissen wir, und so kann der Autor seinen Ich-Erzähler wie einen Schild in der Schlacht vor sich hertragen und ihn allerhand anstellen und sagen lassen, was er mit eigenem Namen vielleicht nicht unterschreiben würde. Vielleicht aber doch. Und das ist ja das Schöne an diesem Spiel mit den Rollen: Die Membranen sind durchlässig. So etwa, wenn schon auf den ersten Seiten der gefürchtete Anwalt des Verlagshauses thematisiert wird und der schreibende Lektor überlegt, Schauplätze und Umstände des Geschehens zu verlegen und zu verändern, sich schließlich aber dagegen entscheidet und den Verlag in Wien „belässt“ und selbstsicher meint, er habe sich schon abgesichert.

Ein hübscher Schachzug, bei dem einem schwindlig werden könnte wie bei der klassischen Frage nach sämtlichen lügenden Kretern – zumal der Verlag im Roman mit Suhrkamp nicht allzu viel zu tun hat, sondern eher ein Pflänzchen ist, das im österreichischen Lokalkolorit prächtig gedeiht, mit einer Handvoll experimentierfreudigen Autorinnen in der Anfangszeit und ein paar etwas besser verkaufbaren Werken in späteren Zeiten, in denen man sich wiederum sehnsüchtig an einen vergangen Glanz erinnern wird, den es eigentlich nie gab.

Dagmar hat es sich in den Kopf gesetzt, den Verlag zu seiner alten vermeintlichen Größe zurückzuführen und beginnt mit Recherchen zu einer der Autorinnen der Frühzeit, einer verzweifelten Dichterin mit religiösen Obsessionen, die nach kurzem Erfolg Selbstmord begonnen hatte, einer Vestalin der Kunst, einer Besessenen, die vor ihrem Wahn ins Kloster flüchtete und ihm dort erst recht erlag. „Mir fehlt jeder Grund“ ist ihre Botschaft, mehrdeutig wie so vieles im Roman.

Vielfältig sind auch die kleineren und größeren Wirklichkeitsanker. Vom heftig geschwenkten Zaunpfahl bis zum schüchternen Zwinkern sind viele Abstufungen vertreten. Ein Beispiel aus der goldenen Mitte: Auf der Suche nach dem Grab der Dichterin reisen Dagmar und der Ich-Erzähler nach Tirol und stoßen dort auf dem Dorffriedhof auf etliche Grabsteine, die den Namen Gstrein tragen. Das Vexierspiel zwischen den Ebenen von Aussage und Wahrheit ist nicht zuletzt eine gekonnte Inszenierung, die eine ähnliche Handschrift trägt wie der „Ausländer raus!“-Container des kürzlich verstorbenen Christoph Schlingensief vor zehn Jahren am Wiener Opernring: Die Reaktionen des Publikums und die Reaktionen der Presse gehören dazu. Und wenn eine Rezensentin hier sitzt und schreibt und sich den Kopf zerbricht und versucht, diese Umspringbilder festzumachen, um an der ganzen Wahrheit zu kratzen, gehört das wohl auch dazu. Samt der Gefahr, sich wie Dagmar in ihrem Vorwort zu den Gedichten der Selbstmorddichterin in allerhand Unsinn zu versteigen. Ich-Erzähler (und Autor?) bleiben skeptisch angesichts der Interpretationen des Textes. Das liegt in der Natur des Romans.

Dabei sind Rezensionen und Vorworte eigentlich etwas recht Harmloses. Sie wollen uns nur ein Stückchen Literatur erklären. Literatur und Religion gehen da sehr viel weiter: sie erklären uns in gewissem Sinne die Welt, oder zumindest einen Ausschnitt von ihr. Erst das ist ein wirklich heikles Unterfangen.
Unser Lektor, der Ich-Erzähler ist einerseits ein sprachgewandter Literatur-Erfahrener, bei dem jedes Wort auf dem anderen sitzt und der haargenau ausdrücken kann, was er sagen möchte und auch ganz genau weiß, was er nicht sagen möchte (so lässt er sich etwa immer wieder gerne über peinlich miserable Beschreibungen von Sex-Szenen aus) – und dennoch stößt er beim Schreiben ständig an seine Grenzen. Sobald er etwas oder jemanden charakterisiert, muss er sich fühlen, als würde er wie Dagmar hinter vorgehaltener Hand „die ganze Wahrheit“ über jemanden preisgeben wollen und sich dann doch immer nur in Banalitäten verlieren, die nichts weiter sind als ein kleiner Ausschnitt eines kurzsichtig gemalten Porträts. Die Welt besteht aus unendlich vielen Einzelperspektiven. So halten sich Wahrnehmung und Interpretation, Konstruktion und Dekonstruktion die Waage, und wir streifen beim Lesen ein buntes Spektrum an Welterklärungen: Katholizismus, Judentum im Allgemeinen bzw. Kabbala im Besonderen, Erweckungserlebnisse durch Außerirdische, selbstgebastelte Philosophien und Mystizismus (das meiste davon bringt Dagmar ein). Währenddessen gibt sich der Lektor ganz schlicht und erweckt den Anschein, offen, ehrlich und nüchtern zu erzählen, wie die Dinge sich zugetragen haben. Dabei trinkt er doch ganz gerne ein Gläschen zuviel.

Wie kommen wir hier jemals auf einen grünen Zweig? Zu einem verbindlichen Fazit? Boshaft oder lieber freundlich? Ein kleine Verschwörungstheorie? Oder gar hochphilosophisch? Ein bisschen Erkenntnistheorie?
Wählen Sie selbst, welche Interpretation Sie dem Autor, welche dem Ich-Erzähler und welche Sie keinem von beiden, aber statt dessen vielleicht der Rezensentin oder ganz anderen Leuten zuschreiben möchten. – Viel Vergnügen!

Was tun mit dem Roman?
Ganz einfach: Lesen!

Norbert Gstrein Die ganze Wahrheit
Roman.
München: Hanser, 2010.
304 S.; geb.
ISBN 978-3-446-23549-6.

Rezension vom 08.09.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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